23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Wenn man nun eines jener (wie Simon sie nennt) »hyperrationalen« Wesen wäre, die in den Standardwerken zur Volkswirtschaft vorkommen, dann könnte man freilich sämtliche möglichen Züge vorhersehen und ihre Wahrscheinlichkeit berechnen, bevor man selbst einen Zug macht. Da es jedoch, wie Simon anmerkt, in einem durchschnittlichen Schachspiel 10 120 (ja, das sind 120 Nullen) Möglichkeiten gibt, erfordert dieser »rationale« Ansatz eine Geisteskraft, über die kein menschliches Wesen verfügt. Vielmehr stellte Simon fest, dass Schachmeister anhand bestimmter Faustregeln (Heuristik) handeln und sich auf wenige mögliche Züge konzentrieren, um die Anzahl der zu analysierenden Szenarien zu beschränken – selbst wenn die ausgeschlossenen Züge vielleicht zu besseren Ergebnissen geführt hätten.
Wenn Schach schon so kompliziert ist, dann kann man sich vorstellen, wie kompliziert eine Volkswirtschaft ist, die Milliarden Menschen und Millionen von Produkten umfasst. Deshalb operieren Unternehmen mit produktiven »Routinen«, die ihre Suchoptionen und Suchpfade optimieren, ganz so, wie sich einzelne Individuen Routinen für ihren Alltag oder für das Schachspiel zurechtlegen. Unternehmen schaffen bestimmte Entscheidungsstrukturen und stellen formale Regeln und Konventionen auf, die automatisch die Bandbreite der zu untersuchenden Handlungsmöglichkeiten einschränken. Dies geschieht in dem Wissen, dass die dadurch ausgeschlossenen Möglichkeiten vielleicht die profitableren sind. Trotzdem wird so verfahren, da man ansonsten in einer Informationsflut ertrinkt und überhaupt keine Entscheidung mehr treffen kann. Auf die gleiche Weise schaffen Gesellschaften informelle Regeln, welche die Entscheidungsfreiheit der Menschen einschränken, damit sie nicht ständig neue Entscheidungen treffen müssen. Zum Beispiel ist es eine gesellschaftliche Übereinkunft, dass man Schlange steht. Dadurch müssen die Wartenden an einer überfüllten Bushaltestelle ihre Situation nicht ständig neu bewerten, um sicherzugehen, dass sie den nächsten Bus erwischen.
Die Regierung muss es nicht besser wissen
So weit, so gut, mögen Sie nun denken, aber was sagt uns Simons Theorie der eingeschränkten Rationalität denn tatsächlich über die Möglichkeit einer Regulierung?
Marktliberale haben sich gegen eine staatliche Regulierung stets mit der (scheinbar überzeugenden) Begründung ausgesprochen, die Regierung verfüge keinesfalls über bessere Informationen als diejenigen, deren Handeln reguliert werden solle. Es sei unstrittig, dass die Regierung über eine fremde Situation gar nicht so gut Bescheid wissen könne wie der Einzelne oder die Firma, die direkt davon betroffen sind. Daher, so heißt es, sei es unmöglich, dass ein Regierungsvertreter bessere Entscheidungen treffe als die jeweils wirtschaftlich Handelnden.
Simons Theorie zeigt jedoch, dass viele Regulierungen nicht deshalb funktionieren, weil die Regierung besser informiert ist als die Regulierten (wenngleich dies ab und zu der Fall ist – siehe Nr. 12), sondern, weil sie die Komplexität der Aktivitäten begrenzen, was die Regulierten in die Lage versetzt, bessere Entscheidungen zu treffen. Die weltweite Finanzkrise des Jahres 2008 illustriert diesen Punkt sehr hübsch.
Im Vorfeld der Krise war die Welt in ihrer Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen, schlicht überfordert, weil sich durch Innovationen im Finanzsektor alles viel zu komplex entwickelte. So viele neue Finanzinstrumente wurden geschaffen, dass selbst Finanzexperten sie nicht ganz verstanden, es sei denn, sie spezialisierten sich darauf – und zuweilen nicht einmal dann (siehe Nr. 22). Die Spitzenentscheidungsträger der Finanzunternehmen hatten jedenfalls keine große Ahnung davon, was ihre Firmen eigentlich taten. Auch die Regulierungsbehörden konnten sich kein klares Bild davon machen, was sich vor ihren Augen abspielte. Wie bereits erwähnt, häufen sich inzwischen die freiwilligen und erzwungenen Bekenntnisse der Hauptverantwortlichen für die Krise.
Wenn wir ähnliche Krisen künftig vermeiden wollen, müssen wir den Handlungsspielraum am Finanzmarkt drastisch einschränken. Neue Finanzprodukte dürfen erst dann genehmigt werden, wenn wir ihr Wesen und ihre Auswirkungen auf den Rest des finanziellen Sektors und vor allem auf die übrige Wirtschaft vollständig begriffen haben. Dies bedeutet, dass viele der komplexen finanziellen Derivate verboten werden müssen, deren Wesen und Auswirkungen
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