23 Uhr, York Avenue
wird ganz warm.
Ausschnitt II. 17. August, 12.02 Uhr.
Anderson: Und wie ging's weiter?
Ingrid: Das wirst du mir nicht glauben.
Anderson: Ich glaub's dir.
Ingrid: Da gab's zum Beispiel diesen Mann in Bayern. Sehr reich. Sehr bedeutend. Wenn ich dir seinen Namen sag', erkennst du ihn wieder. Einmal im Monat, an einem Freitagabend, pflegte sein Butler vielleicht sechs, vielleicht zehn junge Mädchen zu versammeln. Ich war erst dreizehn. Wir waren nackt. Der Butler steckte uns immer Federn ins Haar und band uns Gürtel mit Federbüschen um die Hüften, und wir mußten auch an Handgelenken und Fesseln Bänder mit angenähten Federn tragen. Und dann pflegte dieser Mann, dieser sehr bedeutende Mann, in einem Lehnstuhl zu sitzen, ganz nackt, und mit sich selbst zu spielen. Du verstehst? Und wir tanzten in einem Kreis um ihn herum. Wir flatterten mit den Armen und krähten und machten Vogelstimmen nach. Wie Hühner. Verstehst du? Und dieser komische Butler mit seinem grauen Backenbart und seiner hohlen Stimme rief immerzu »Eins und zwei, eins und zwei« und klatschte in die Hände, um uns den Takt anzugeben, und wir tanzten herum und krähten, und dieser alte Mann saß da und betrachtete uns und unsere Federn und wichste vor sich hin.
Anderson: Hat er euch auch mal angefaßt?
Ingrid: Niemals. Wenn er mit sich fertig war, erhob er sich und stolzierte 'raus. Wir stiegen aus unseren Federn und zogen uns an. Der Butler stand an der Tür und gab uns unser Geld, während wir 'rausgingen. Sehr gutes Geld. Und im nächsten Monat waren wir wieder da. Vielleicht dieselben, vielleicht auch ein paar neue Mädchen. Und die gleiche Schau wurde abgezogen.
Anderson: Wie würd'st du dir sein geiles Sondersteckenpferd ausmalen?
Ingrid: Überhaupt nicht. Das zu versuchen, hab' ich vor vielen Jahren aufgegeben. Die Menschen sind nun mal, was sie sind. Das kann ich hinnehmen. Aber ich kann nicht hinnehmen, was sie vortäuschen zu sein. Dieser Mann, der sich da selber liebkoste, während ich vor ihm herumhopste, angetan mit Hühnerfedern, dieser Mann ging jeden Sonntag zur Kirche, spendete für mildtätige Zwecke und wurde - das wird er auch heut' noch - als einer der ersten Bürger seiner Stadt und seines Landes angesehen. Auch sein Sohn ist jetzt sehr einflußreich. Am Anfang hat mich das alles angewidert.
Anderson: Die Hühnerfedern?
Ingrid: Der Dreck! Der Dreck! Dann lernte ich, wie die Welt am Gängelband geführt wird. Wer die Macht hat. Was Geld vermag. Und so hab' ich der Welt den Krieg erklärt. Meinen eigenen persönlichen Krieg.
Anderson: Hast du gewonnen?
Ingrid: Ich bin am Gewinnen, Schatzi.
Ausschnitt III. 17. August, 12.04 Uhr.
Anderson: Es hätt' auch anders kommen können.
Ingrid: Vielleicht. Aber wir sind hauptsächlich das, was mit uns geschehen ist, was uns die Welt angetan hat. Wir haben nicht immer die Wahl. Mit fünfzehn war ich eine Hure vom Scheitel bis zur Sohle. Ich hatte Menschen bestohlen und erpreßt, war etliche Male fürchterlich verdroschen worden, und ich hatte einem Zuhälter das Gesicht zerschnitten. Trotzdem war ich noch ein Kind. Ich hatte keine Erziehung und keine Bildung. Ich wollte nur überleben, was zu essen haben und ein Dach über dem Kopf. Damals wünschte ich mir sehr wenig. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir so simpático sind. Du warst doch auch arm … nein?
Anderson: Ja. Ich stamm' aus 'ner Familie von weißen Negern .
Ingrid: Versteh mich recht, Schatzi, ich will hier keine Ausflüchte gebrauchen. Ich tat, was ich tun mußte.
Anderson: Klar. Aber als du dann älter warst…?
Ingrid: Ich hab' schnell gelernt. Wie ich dir schon erzählt hab', wurde mir alsbald klar, wo das Geld lag und wo die Macht lag. Dann gab's nichts mehr, was ich nicht getan hätt'. Es herrschte Krieg - totaler Krieg. Ich schlug zurück. Dann schlug ich als erste zu. Das ist sehr wichtig. Arm zu sein ist das einzige Verbrechen auf dieser Welt. Das ist das einzige Verbrechen. Wenn man nicht arm ist, kann man alles tun.
Ausschnitt IV. 17. August, 12.08 Uhr.
Anderson: Manchmal erschreckst du mich.
Ingrid: Wieso, Schatzi? Ich will dir nichts Böses.
Anderson: Ich weiß, ich weiß. Aber du läßt dich nie 'rausholen. Du lebst jede Minute damit.
Ingrid: Ich hab' alles versucht - Alkohol, Rauschgift, Sex. Nichts funktioniert bei mir. Ich muß jede Minute damit leben - also tu' ich's auch. Jetzt lebe ich ruhig. Ich hab' ein gemütliches Zuhause. Genug zu essen. Ich hab' Geld angelegt. Sicheres Geld.
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