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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Schleusenraum betraten, hörten sie lautes Geschrei, das scheinbar überall auf dem Schiff herrschte. Sie schauten einander an.
    »Lass uns zusammenbleiben«, sagte Swan, und Wahram nickte stumm.
    Das Wendemanöver erzeugte mehr Desorientierung als sonst, so als ob allein das Wissen um die ungewöhnlichen Umstände zu einer Art Raumkrankheit führen würde, oder zu einem Traum, in dem man schwerelos einer Katastrophe entgegentreibt.
    Das ungute Gefühl verwandelte sich in eine andere Art von Albtraum, als sie wieder beschleunigten und das Gewicht ihrer Leiber ziemlich rasant auf das Dreifache anstieg. Das genügte, um erst einmal alle zu Boden gehen zu lassen. Die Leute schrien vor Entsetzen, aber sie begriffen, was los war, und nach den ersten paar Augenblicken rollten sich die meisten Passagiere herum und krochen auf Händen und Knien. Sie versuchten auf die unterschiedlichsten Arten, sich fortzubewegen, zuweilen ohne Erfolg, sodass manche zappelnd am Boden lagen, im Griff eines unsichtbaren Ringers.
    Entscheidend unter solchen Schwerkraftverhältnissen war die sehr unterschiedliche Masse der Menschen. Kleine waren zwar wie alle anderen an Bord dreimal so schwer sie sonst, aber damit bewegten sie sich immer noch im Bereich dessen, was menschliche Muskeln bewältigen konnten. Entsprechend waren zahlreiche Kleine nach wie vor auf den Beinen und liefen im Schiff herum, wobei manche tief in die Knie gingen wie Sumoringer oder Schimpansen und andere weit ausholend liefen wie Popeye. Jedenfalls konnten sie sich auf beiden Beinen fortbewegen, und die meisten hatten sich spontan zu Gruppen zusammengefunden, um ihren lang hingestreckten, großen Mitpassagieren zu helfen. Zu denjenigen, die sich am wenigsten bewegen konnten, gehörten natürlich die Großen und die Runden, die nun teilweise mit einem Gewicht von über vierhundert Kilogramm vollkommen bewegungsunfähig am Boden lagen. Es brauchte drei bis vier Kleine, um diese größeren Leute auf den Rücken zu rollen, bei den Armen und Beinen zu packen und zu den Luftschleusen zu ziehen.
    Swan selbst kam kriechend recht gut voran, obwohl es ihr in den Knochen schmerzte. Wenn sie erst einmal einen Raumanzug erreichte und begann hineinzusteigen, würde die KI übernehmen und ihr das Ding überziehen. Dafür musste man nur ein bisschen die Schultern und Arme bewegen, wie wenn man in die Ärmel eines Mantels schlüpfte, während der Anzug sich an einen anpasste und verschloss. Jeder hier war schon ein paarmal bei einer Katastrophenübung unter erhöhter Gravitation in einen Raumanzug gestiegen, weshalb das Gefühl vorherrschte, dass alles gut werden würde, sobald man es in den Umkleideraum geschafft hatte.
    Doch Wahram hatte mehr Schwierigkeiten als Swan. Er war vielleicht 50 oder sogar 75 Prozent schwerer als sie, und dieser Unterschied machte sich jetzt geltend. Er schleppte sich voran wie ein verwundetes Walross, und Swan sah, dass er bald schon ermüdete. Glücklicherweise kam Genette an ihnen vorbei. Gemeinsam mit zwei anderen Kleinen zog der Inspektor einen riesigen Großen, der aussah wie Michelangelos David , aber nur mit Mühe und Not den Kopf anheben konnte, während man ihn weiterschleifte. »Ich komme zurück«, sagte Genette zu Wahram und Swan, und schon waren die Kleinen auf und davon und riefen einander mit ihren hohen Stimmen Anweisungen zu. Wenige Minuten später kehrten alle drei zurück. Genette stapfte umher und gab mit aufmunternder Stimme Befehle, und sie zogen Wahram zu einer Wand mit einem Geländer. Dort gelang es ihm ächzend und mit hochrotem Kopf, sich auf die Knie hochzuziehen. Er fixierte Genette mit einem seiner Glupschaugen. »Danke, ich komme jetzt alleine weiter. Bitte geh jemandem helfen, der es nötiger hat. Ich bin froh zu sehen, dass die Gesetze der Proportionalität hier von Vorteil für dich sind, mein Freund.«
    Genette hielt kurz inne, um einen Boxer zu mimen. »All ihr Kleinen, hört den Ruf! Von uns starb noch keiner eines natürlichen Todes!« Dann, etwas lockerer: »Wir sehen uns bald in der Luftschleuse, ich glaube, dass wir inzwischen fast alle dorthin gebracht haben.«
    Im Umkleidezimmer neben der Schleuse ging es hektisch zu. Es war noch keine Panik, auch wenn die nicht mehr weit entfernt war. Zwar lagen mit Ausnahme der Hilfestellung leistenden Kleinen fast alle auf dem Boden oder krochen umher, was die akute Notsituation auf höchst beunruhigende Weise vor Augen führte. Aber die Anzüge befanden sich in Schließfächern auf

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