24 kurze Albträume (German Edition)
er mich vor dem Ding gewarnt hatte.
An jenem Morgen im März 1981 verließ er wie immer das Haus, um zur Arbeit zu gehen. Dort kam er aber nie an. Schließlich wurde er gefunden – vor der Litfaßsäule.
Er lag dort und gab ein Bild ab, wie es Kinder niemals sehen sollten. Noch jahrelang träumte ich von dem gespaltenen Brustkorb und dem vielen Blut ringsum. Am Schlimmsten aber traf mich der abgehackte rechte Arm. Nie werde ich das zur Hälfte in einer Blumenrabatte liegende Körperteil vergessen, dessen Hand mich dereinst gestreichelt und gezüchtigt hatte
Das Leben ging weiter, auch wenn es mir nicht erspart blieb, jeden Schultag den Ort des Verbrechens, den ich nun als den Abscheulichsten auf der Welt betrachtete, zweimal zu passieren. Dazu trug auch der Umstand bei, dass nie festgestellt werden konnte, was mit Papa an jenem Morgen geschehen war. Die Polizei fahndete zwar intensiv, doch ließen sich fast keine Anhaltspunkte feststellen. Niemand war Zeuge des Vorfalls gewesen, was seltsam genug war, denn es herrschte Berufsverkehr und die Autos hatten sich Stoßstange an Stoßstange dem Stadtzentrum entgegengequält. Und jene, die eine Aussage machten, logen den Beamten aus Geltungssucht etwas vor oder waren schlicht verrückt. Auch die Spurenlage war dünn. An der Leiche konnten außer der Tatsache einer Einwirkung mit einem scharfen Gegenstand, vermutlich einer Axt, keine aufschlussreichen Feststellungen getroffen werden. Schließlich geriet der Vorfall mehr und mehr in Vergessenheit.
Auch meine gepeinigte Seele kam irgendwann zur Ruhe. Nach dem Abitur ging ich fort, um zu studieren. Die Litfaßsäulen in der Großstadt bereiteten mir keine Angst. Es waren nur große klobige Zylinder, die mich auf das kulturelle Leben in der Metropole aufmerksam machten und dafür war ich ihnen dankbar.
Als meine Mutter starb, kehrte ich in mein Elternhaus zurück. Die Geschäfte liefen schlecht und daher kam mir das mietfreie Wohnen in einem Reihenhaus gerade recht. Über ein Fahrzeug verfügte ich nicht mehr, der Unterhalt war einfach zu teuer gewesen. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass der tägliche Weg zur Arbeit mich erneut an jener Säule vorbeiführte, die ich so gründlich aus meinem Leben gestrichen hatte. Als ich sie zum ersten Mal wieder erblickte, schlug ich unwillkürlich die Hände vor das Gesicht und bekam weiche Knie. Der Schmerz alter Zeiten stieg in mir auf und ich fühlte mich wieder als der schutzlose Jungen von damals. Ich zwang mich, weiterzugehen, doch es war sinnlos. Der runde Körper zog mich magisch an und schon streckte ich meine Hand nach vorne, um ihn zu berühren. Wahrscheinlich wollte ich mich mit dieser Geste versichern, dass es sich nur um einen leblosen Gegenstand handelte, auf den Plakate mit einem Eimer Kleister und einem Pinsel geklebt werden konnten. Kaum hatte ich die glatte Oberfläche berührt, als mich eine Art Stromschlag traf. Ich zuckte zurück, doch meine Hand haftete an der Säule. Langsam formten sich in meinem Kopf einzelne Bildfolgen zu einem einheitlichen Ganzen und ich sah, was dereinst an diesem Ort geschehen war. Auch mein Vater war nicht umhin gekommen, die stoffliche Substanz der Säule zu untersuchen. Dabei stand er unterhalb einer Kinofilmwerbung. Auf dem Plakat, dessen Größe sich innerhalb der damals üblichen eher geringen Abmessungen hielt, befand sich Jack Torrance, bewaffnet mit einer Axt, der in irgendeinem gottverlassenen Hotel mitten im Winter mit der scharfen Kante eine aus Spanplatten bestehende Tür niedermachte. Ich sah in das angstverzerrte Gesicht von Wendy auf der anderen Seite der Tür und hörte sie schreien. Auch Papa begann zu schreien, laut und unartikuliert. Jack
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