24 kurze Albträume (German Edition)
auf der Mauerkrone saß und von oben auf einen kleinen Friedhof herabschaute. Er gönnte sich einen Moment des Trostes und der Erleichterung. Warum riss denn niemand diese Mauer ein und schenkte den Verstorbenen ihre Ruhe?
Vorsichtig ließ er sich von der Mauerkrone herabgleiten und überquerte glücklich das Rasenstück. Ein Hindernis ließ ihn stolpern. Ein kurzer Pfahl mit einem Holzschild. Theo ging um das Schild herum, las, was auf ihm geschrieben stand, schrie auf und rannte in panischer Angst davon. Und da erklang auch schon eine Stimme hinter ihm:
»He, können Sie nicht lesen? Das Betreten des Rasens ist verboten.«
Till Kammerer
Die Pyramide im Kühlschrank
Der Sommerabend war so heiß, dass man schwitzte, sobald man nur einen Kugelschreiber hob. Horst Kabulke, 43, Buchhalter, unverheiratet, freute sich mehr als sonst auf ein kaltes Feierabend-Bier. Als er die Tür seines Kühlschrankes öffnete, sprang dessen Kompressor bullernd an, um Kühlflüssigkeit in den Kreislauf zu pumpen. Er schrak kurz zusammen. Im Bruchteil einer Sekunde ging das Brummen des Gerätes in eine Mischung aus Blitz und Qualm über, die ein ohrenbetäubendes Pfeifen begleitete. Kabulke tauchte in eine Nebelwand ein. Lichtbögen zuckten und zogen ihn in ein gleißendes Licht.
Kaum hatte sich der Dunst verzogen, krachte es neben Kabulke. Erdschollen wirbelten zwei Meter hoch, von dort, wo der Lärm herkam. Eine weitere Granate flog zischelnd heran. Maschinengewehre ratterten. Er befreite sich mit einem Ruck von einem Stück Stacheldraht, wobei seine Hose riss, und rollte in die Kuhle des Schützengrabens. Kabulke landete auf einem Toten in Uniform, dem beide Beine fehlten.
In diesem Augenblick unterbrach ein Wackelkontakt den Stromkreis eines betagten Kühlschranks. Die just neben ihm detonierende Nebelgranate wurde von Blitzen durchzuckt. Kurz darauf durchfuhr Kabulke ein warmer Schauer.
Die Ursache des wohligen Kribbelns waren zwei warme, volle Lippen, die ihn ausgiebig und leidenschaftlich küssten. Die zierliche Südsee-Schönheit an seiner Seite ließ sich von seinen schlammverschmierten Hosen nicht stören. Sie legte ihm einen Blumenkranz aufs Haupt. Dann blickte sie ihn aus großen, mandelbraunen Augen verträumt an und sagte Worte in einer Sprache, die Kabulke nicht verstand; in einer Tonalität, die sein Herz schneller schlagen ließ.
Ein älterer Mann, der vor ihnen stand, reichte ihr eine Kokosnuss, in die ein Loch geschlagen war. Sie trank und gab die Frucht Kabulke. In dem Augenblick, als Kabulke klar wurde, dass er ihre Sprache lernen, mit ihr eine Familie gründen und nicht wieder in die Buchhaltung zurückkehren würde, schraken die Hochzeitsgäste zusammen. Es war nicht der Vulkan, der die Insulaner regelmäßig terrorisierte. Ein plötzlicher Leistungsabfall eines alten Kühlschranks aus einer anderen Welt riss Kabulke mit Blitz und Qualm aus seinem Glück und katapultierte ihn hinfort.
Das Nächste, was er fühlte, war ein ruppiger Schubser von hinten. Er stand in einer Reihe mit anderen Menschen und war mit einem Strick an seinen Vorder- und Hintermann gefesselt. Im Gänsemarsch bewegten sie sich so, stockend und immer wieder pausierend, die Stufen einer Pyramide hinauf, deren Rückseite an einen Dschungel grenzte. Die Schlange der Gefangenen hatte die Spitze des Bauwerkes beinahe erreicht. An ihrer Seite standen Wachen in Lendenschürzen, in denen Messer und Äxte steckten. Die Wachen hatten nackte, braune Oberkörper. Mit Stockschlägen trieben sie den Tross weiter, sobald der Wachposten auf der obersten Stufe ein Zeichen gab. Kabulke erblickte zahlreiche Gaffer am Fuße der Pyramide.
Ein erneuter Schubser brachte
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