24 kurze Albträume (German Edition)
Kabulke auf die höchste Treppenstufe. Er überblickte nun das etwa zehn mal zehn Meter messende Plateau der Pyramide. Am vorderen Rand der Fläche, dem Volk zugewandt, stand einer, den Kabulke für einen Geistlichen hielt. Der Mann riss die Arme gen Himmel und sprach einen beschwörenden Singsang. Bei dem Maya-Priester befand sich der Gefangene, der eben noch vor Kabulke gestanden hatte. Er lag auf einer Bahre aus massivem Stein. Seine Hände und Füße wurden von kräftigen Männern gehalten – warum, erfuhr Kabulke schnell. Unversehens unterbrach der Priester seinen Gebetsgesang und stieß dem Unglückswurm mit Wucht eine schwarzgrün schimmernde Klinge in die Brust. Er schnitt, wühlte und hielt das Herz des Gefangenen in die Höhe. Wenige Sekunden später schlug eine Wache dem Toten mit einem kräftigen Axthieb den Kopf ab. Der Priester nahm den Kopf und warf ihn die vordere Treppe der Pyramide hinunter, dem verzückt schreienden Mob entgegen.
Jeder Lebensmut verließ Kabulke. Seine Knie wurden schwach. Er sank zu Boden, krümmte sich, wimmerte. Stockschläge waren die Folge. Kabulke ertrug sie, statt sich zu erheben. Man schleifte ihn zum Opferplatz und warf ihn auf den blutigen Stein. Wachen hielten ihn an Händen und Füßen. Der Priester verfiel erneut in monotonen Singsang. Kabulke blickte in den Himmel und hoffte, aus einem bösen Traum zu erwachen.
Plötzlich veränderten sich die Schreie des Pöbels. Finger wiesen zum Himmel. Raunen setzte ein. Einzelne Freudenrufe erklangen, die auch das Opferplateau erreichten. Der Priester blickte gen Himmel, um das Wunder, das eingetreten war, zu begrüßen. Die Wolkenwand, die eben noch drohend über dem Ort gehangen hatte, riss auf. Hinter ihr zeigte sich ein freundliches, helles Blau. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zur Erde und wärmten sie.
Mit demselben Gleichmut, mit dem man ihn auf den Opferstein geworfen hatte, begann man nun, Kabulke aus seiner misslichen Lage zu befreien.
Die Tragweite dieses glücklichen Zufalls wurde erheblich dadurch eingeschränkt, dass im selben Augenblick in ferner Zukunft ein Kühlschrank seinen Geist aufgab.
Oliver Henzler
Litfaßsäule
Um dieses kreisrunde Ding habe ich schon immer einen großen Bogen gemacht.
Meine Angst vor der Litfaßsäule wurde mir von meinem Vater in die Tiefen meines Bewusstseins eingepflanzt. Er hatte mir verboten, mich der Säule weiter zu nähern, als es unbedingt sein musste. Eine befriedigende Erklärung für diese Anweisung habe ich von ihm nie erhalten, und die Gefahr, die er bei der Unterschreitung eines Mindestabstands heraufbeschwor, war lediglich abstrakt formuliert und für mich nicht greifbar. Doch wie die Dinge eben sind, wenn man ein kleiner Junge ist; man glaubt an das, was einem die Eltern mit auf dem Weg durch das Leben geben. Zumindest erst einmal. Ich weiß selbst nicht, wie mein Vater auf den Gedanken verfallen war, an dem Ding könnte etwas Böses sein. Was für eine Gefahr konnte von einer runden Zementsäule mit einem schlichten Betonsockel und einem Dach, das entfernt an eine Pudelmütze erinnerte, auch ausgehen? Sie stand bewegungslos auf dem Bürgersteig, ohne jemals aufdringlich zu sein. Stumm versuchte das Bauwerk die Aufmerksamkeit der Autofahrer und Passanten auf sich zu lenken, was ihm bei mir mit fortschreitendem Alter auch ziemlich gut gelang. Plötzlich war Werbung für Whiskey und Zigaretten interessant. Auch die Kinoplakate trafen meinen Nerv. Oft standen wir nun vor dem Zylinder und informierten uns über die schönen Dinge des Lebens, auch wenn wir sie zumeist nicht haben konnten.
Ich war gerade 16, als es passierte. Mein alter Herr sollte auf eine grausame Weise Recht behalten, als
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