24 kurze Albträume (German Edition)
Wendemöglichkeit.«
Die Stimme hustete, zischte, versprühte Speicheltröpfchen, die ihm auf der Haut festzufrieren schienen. Theo stolperte ungeschickt rückwärts.
»Ts, ts«, machte die Stimme und verteilte weitere Tröpfchen. »Auch wenn Sie rückwärts gehen, gilt immer noch das Gebot der Einbahnstraße.
»Und wie kommt man hier heraus?«, keuchte Theo.
»Ist das nicht offensichtlich? Geradeaus. Immer geradeaus.«
»Aber da ist eine Mauer. Wie soll das gehen?«
Theo versuchte es mit Gewalt, drehte sich, dass es ihm in den Gelenken krachte und seine Sehnen »Erbarmen« riefen.
»Über die Mauer, nur über die Mauer.«
Er riskierte einen verzweifelten Versuch, rannte auf die Mauer zu und sprang. Die Hände fanden keinen Halt, rutschten nutzlos über die Ziegel.
»Die Mauer ist zu hoch«, schrie Theo verzweifelt. »Sie müssen mich hochheben oder auf Ihre Schultern steigen lassen, wenn ich über die Mauer kommen soll.«
Erneut versuchte Theo, sich umzudrehen. Aber ohne Erfolg.
»Wer einmal an der Mauer steht, kann nicht mehr zurück. Sie können sich nur noch seitwärts schieben«, sagte die Stimme.
Theo verlegte sich aufs Betteln. »Bitte, lassen Sie mich hier raus.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Auch habe ich weder Hände noch Schultern, um zu helfen.«
Theo schob sich an der Mauer entlang, suchte Löcher, kleine Vorsprünge, wo er sich festkrallen konnte, aber die Ziegel waren fest, und der Mörtel dicht. Unter Theos Schuhen knirschte etwas. Ein Haufen Lumpen und unter den Lumpen etwas Hartes. Theo bückte sich und hob die Lumpen an. Knochen! Große und kleine, Schädel, Rippen und Wirbel.
»Ja, versuch es hier«, sagte die Stimme.
Theo sprang. Es reichte nicht.
»Bravo«, sagte die Stimme. »Beinahe. Noch liegen hier nicht genügend Knochen, aber bald wird es reichen. Sie und vielleicht noch einer oder zwei, die nach Ihnen kommen. Und dann kann die Mauer niemanden mehr aufhalten.«
Aber darauf konnte Theo nicht warten. Er sprang noch einige Male verzweifelt in die Höhe, ohne die Mauerkrone zu erreichen und sackte dann mutlos auf den Lumpen zusammen.
»Es ist ein noch neuer Weg«, hörte er die Stimme sagen. »Nicht einmal hundert Jahre alt. Ein ganz wichtiger Weg für unser Viertel. Leider ist er noch nicht ganz fertig, und nun müssen wir alle Opfer bringen.«
Als Theo das Wort Opfer hörte, schrie er auf, heulte seinen Schmerz hinaus und schämte sich auch nicht seiner Tränen und des Rotzes, der ihm aus der Nase lief.
»He, leise. Sie können hier nicht herumschreien. Von zwölf bis fünfzehn Uhr herrscht Mittags- und von zweiundzwanzig bis sechs Uhr morgens Nachtruhe.«
Die Stimme verstummte, und Theos Tränen versiegten ebenfalls schlagartig. Er brach zusammen. Er würde hier verhungern oder, was wahrscheinlicher war, verdursten. Als die Sonne verschwand und man ihm zu allem anderen Leid auch noch das Licht missgönnte, besann Theo sich auf das, was er hatte. Knochen, sonst nichts.
Er raffte sich auf, schob sich an der Wand entlang und scharrte mit seinen Füßen jeden Dreck, der dort lag, zusammen. Er sammelte jeden Knochen auf und trug ihn auf den Haufen, der ständig anwuchs. Bei seinem nächsten Sprung fehlten nur noch wenige Zentimeter, aber nach jedem Versuch rutschte der Haufen wieder in sich zusammen.
Theo begann die Knochen zu sortieren. Die Schädel nach unten. Er hatte das Gefühl, sie würden ihn anstarren, und er entschuldigte sich in Gedanken. Er verkeilte sie mit Fingerknochen, schlug die massiven Oberschenkelröhren in die Augenhöhlen, sodass sie nach oben ragten, füllte die Zwischenräume mit Wirbeln und deckte alles mit den massiven Beckenschaufeln und Schulterblättern ab.
Später wusste er nicht mehr, wie oft er gesprungen und wie oft er den Haufen neu geschichtet hatte. Es war früher Morgen , als er endlich
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