24 kurze Albträume (German Edition)
Dann beugte sich plötzlich sein Mörder über ihn und sah ihm in die Augen. Reflexartig griff er an den Hals seines Peinigers und drückte mit aller Kraft zu. Mehrere Stimmen schrien laut auf, jemand versuchte den Griff um den Hals des Doktors zu lösen, doch er ließ auch dann nicht locker, als der leblose Arzt ihn mit toten Augen und dunkelblauen Lippen anstarrte. Erst als sie ihm ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht hatten, lösten sich die Hände von Nummer Siebenundzwanzig und er verlor das Bewusstsein.
»Und das war nur eine Blinddarm-OP?« fragte der Polizist wenig später. Der Chefarzt nickte. »Ja, Verwirrtheit nach Vollnarkose. Das kommt vor, aber so habe ich es noch nie erlebt. Mein Gott, der arme Robert.«
Kirsten Riehl
Schwarzer Tod
Der Sturm in seinem Kopf ließ langsam nach. Er hatte sich wieder im Griff und wurde ruhiger. Warum musste sie ihn immer so ansehen? Er konnte das auf den Tod nicht ausstehen. Der Chorus in seiner Zimmerecke verspottete ihn immer noch, aber die Stimmen wurden schon leiser, dröhnten nicht mehr.
»Du Feigling! Lässt du dir das bieten?«
»Wer ist diese dumme Schnepfe, dass sie so mit dir umspringt?«
»Bist du nicht Manns genug, ihr das Maul zu stopfen?«
»Und du willst ein Mann sein?«
Sie stießen sich gegenseitig an. Sie betrachteten ihn. Sie lachten. Er wusste: Wenn er jetzt nicht handelte, würden sie die ganze Nacht keine Ruhe geben.
Schon seit Tagen gingen ihm ihre gelockten blonden Haare nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich war sie eine Schönheit. Die Nase war vielleicht ein wenig zu groß. Und der Mund auch. Aber ihre Figur war perfekt – nicht zu mager und nicht zu dick. Er mochte auch ihre Stimme. Ja und dann diese zarten Hände, mit denen sie beim Austeilen der Medikamente immer so grazil hantierte.
Vor ein paar Tagen hatte er seinen ganzen Mut zusammen genommen und sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen mag. Ins Kino vielleicht. Oder auf einen Kaffee ins Lindenstübchen . Und da hatte sie ihn das erste Mal so komisch angesehen. So von unten her – sie war ja einen Kopf kleiner als er, und mit einem Misstrauen im Blick, dass es ihn ins Herz traf. Der Chorus hatte sofort angefangen, Spottlieder zu singen und ihn auszulachen, und nun verlangte er den Tod der Krankenschwester. Es machte ihn traurig, denn er hatte sie in den letzten acht Wochen, seit sie auf Station drei arbeitete, lieb gewonnen - ihre volle Stimme, ihren wiegenden Gang, ihr blondgelocktes Lächeln, mit dem sie morgens früh jeden begrüßte.
»Das meinen Sie jetzt doch nicht ernst!«, hatte sie ihm auf seine Einladung geantwortet und dann gelächelt. Es war nicht dieses freundliche Lächeln, das er an ihr kannte. Es war ein misstrauisches und ein verächtliches Lächeln. Sie machte sich über ihn lustig. Natürlich – mit diesem Aussehen konnte sie jeden Kerl haben. Einen mit Geld. Oder einen jungen muskelbepackten Sportler. Er war nicht mehr jung und sportlich auch nicht. Das hatte sie sicher abgestoßen. Warum konnte sie nicht erkennen, was für ein Mensch er war? Gutherzig, treu, liebevoll. Er hätte ihr ein Leben in umsorgender Harmonie bieten können.
»Sie kann dich nicht leiden!«
»Sie will einen echten Mann, du Würstchen.«
Der Chorus meldete sich immer noch leise aus der Zimmerecke, doch es waren nur noch vereinzelte Stimmen. Trotzdem würden sie keine Ruhe geben, bis er nicht etwas unternommen hätte.
Diese Heil- und Pflegeanstalt hatte dicke Mauern aus dem vorletzten Jahrhundert. Einige Gebäude waren in den letzten Jahrzehnten dazu gekommen und weniger wuchtig, eher funktional, aber auch weniger verwinkelt, weniger schallgeschützt. Sie durfte nicht hier auf der Station sterben. Es musste ein abgelegener und schwer auffindbarer Ort sein, der nicht zu den normalen Arbeitsbereichen
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