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24 kurze Albträume (German Edition)

24 kurze Albträume (German Edition)

Titel: 24 kurze Albträume (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regina Schleheck , Oliver Henzler , Michael Rapp , Bernhard Giersche
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kan­tip­per-kan­tap­per – ins Rut­schen ge­ra­ten und sie nach un­ten zie­hen. Also geht sie in die Hocke, klam­mert sich am Ge­län­der fest und ver­sucht, das Ge­sicht zwi­schen die Stä­be zu pres­sen, um hin­un­ter­gucken zu kön­nen. 
    Da ruft Mut­ti an. 
    »Lisa, mein Schatz«, sagt Mut­ti, »es wird doch noch zwei Tage län­ger dau­ern«, sagt sie. »Kannst du das Tho­mas bit­te aus­rich­ten? Ich hof­fe, er ist mir nicht böse. Ich ver­su­che ihn später noch mal an­zu­ru­fen. Ich kom­me dann am Sams­tag.« 
    »Ja«, sagt Lisa. 
    »Al­les in Ord­nung, mein Lie­bes?«, fragt Mut­ti be­sorgt. 
    »Ja«, wie­der­holt Lisa. 
    »Wie war es in der Schu­le? Habt ihr eine Ar­beit ge­schrie­ben?« 
    »Ma­the«, sagt Lisa. 
    »Oh je«, sagt Mut­ti. 
    »Vek­to­ren«, sagt Lisa. 
    »Ach Gott«, sagt Mut­ti, »konn­te Tho­mas dir das nicht er­klären?« 
    »Ich hab ihn nicht ge­fragt.« 
    Mut­ti lacht. »Ist auch bes­ser so. Er hät­te dich nur noch mehr fer­tig ge­macht.« 
    »Ja«, sagt Lisa. 
    »Du darfst ihm das nicht übel neh­men. Er ist nun mal so«, bit­tet Mut­ti. »Wir kön­nen froh sein, dass er da ist.« 
    Dazu sagt Lisa nichts. 
    »Nimm es nicht so tra­gisch«, sagt Mut­ti noch. Dann legt sie auf. 
    Lisa denkt an die Vek­to­ren. Sie sieht Tho­mas’ nack­te Ober­schen­kel, die einen Win­kel bil­den. Und da­zwi­schen ragt die­ser Pfeil auf, eine ge­rich­te­te Kraft. Das ist kei­ne ma­the­ma­ti­sche Größe. Das tut weh. Lisa weiß nicht, wie sie Mut­ti das er­klären soll, wenn sie zu­rück­kommt. Tho­mas hat ihr ge­sagt, da gibt es nichts zu er­klären, weil sie selbst schuld ist, und des­halb soll sie kein Wort dar­über ver­lie­ren. Für ihn ist das eine kla­re Rech­nung: Ur­sa­che, Wir­kung, Fol­gen, Schluss­fol­ge­run­gen, Tat­sa­chen. Und Lisa hat die­sen Stein im Bauch und wür­de lie­ber mit den Kin­dern un­ten Hüp­fe­käst­chen spie­len. Aber sie hat den Stein ver­schluckt, und er wird nie wie­der her­aus­kom­men. 
    Wenn Lisa sich ganz weit über das Ge­län­der beugt, dann kann sie den Pfeil in der Luft er­ken­nen, der in das Hüp­fe­käst­chen weist, da­hin, wo­hin sie ih­ren Stein fal­len las­sen muss. Sie weiß, dass sie den Kin­dern das Spiel ver­der­ben wird, wenn sie ein­fach so da­zu­kommt. Aber sie kann nicht an­ders. Sie beugt sich jetzt so weit vor, bis die Rich­tung stimmt. 
    Und dann hüpft sie. 

Mi­cha­el Rapp
     
    Der Pfahl
     
    Si­mon öff­ne­te die Au­gen. Der Rah­men fehl­te. Kein Bo­den, kei­ne Decke, nur blau­er Him­mel. Ein Schwin­del über­kam ihn, er sack­te nach vorn, das Seil um sei­nen Bauch hielt ihn. Un­ter ihm er­streck­te sich eine end­lo­se wei­ße Land­schaft. Schnee? Eis? Sein Herz poch­te. Er griff un­ter sich, fühl­te Holz, hart und fa­se­rig. Ein Pfahl und ein schma­les Brett, das aus dem Pfahl rag­te. Dar­auf saß er, auf ei­nem Brett an ei­nem Pfahl, hun­der­te Me­ter über ei­ner Welt aus Eis.
    Er ver­such­te, den Kopf zu dre­hen, und be­merk­te, dass er nicht al­lei­ne war.
    Es gab vie­le Pfähle. Min­des­tens hun­dert, viel­leicht noch wei­te­re hin­ter ihm. Die meis­ten wa­ren leer, aber nicht alle. Nur drei Pfähle wei­ter lös­te ein dun­kel­haa­ri­ger Jun­ge sein Si­che­rungs­seil. Er war etwa zehn Jah­re alt und muss­te kämp­fen, um frei zu kom­men. Wei­ter rechts hing eine Frau tot oder be­wusst­los auf ih­rem Brett. Ihr blon­des Haar leuch­te­te förm­lich in den Son­nen­strah­len. Ne­ben ihr klet­ter­te ein Mann an sei­nem Pfahl dem Bo­den ent­ge­gen. Sein ver­dreh­tes Sak­ko diente ihm als Klet­ter­hil­fe, aber dann riss et­was. Ein Laut drang aus sei­ner Keh­le, halb Win­seln, halb Schluch­zen. Er rutsch­te zwei Me­ter tief, ehe er sei­ne Bei­ne fes­ter um den Pfahl schlin­gen konn­te. Da hing er nun, klam­mer­te, zit­ter­te - und rutsch­te ein wei­te­res Stück ab. Si­mon konn­te bei­na­he die Split­ter fühlen, die sich in sei­ne Schen­kel zogen
    Er schau­te nach un­ten. Jetzt sah er, dass auf dem Eis Ge­stal­ten um­her­lie­fen. Er hat­te sie zu­erst über­se­hen, weil sie eben­falls weiß wa­ren. Es wa­ren kei­ne Men­schen, nein, ge­sichts­lo­se, an­dro­gy­ne Lei­ber mit klei­nen Flü­geln auf den Rücken, ähn­lich den kit­schi­gen

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