24 kurze Albträume (German Edition)
kantipper-kantapper – ins Rutschen geraten und sie nach unten ziehen. Also geht sie in die Hocke, klammert sich am Geländer fest und versucht, das Gesicht zwischen die Stäbe zu pressen, um hinuntergucken zu können.
Da ruft Mutti an.
»Lisa, mein Schatz«, sagt Mutti, »es wird doch noch zwei Tage länger dauern«, sagt sie. »Kannst du das Thomas bitte ausrichten? Ich hoffe, er ist mir nicht böse. Ich versuche ihn später noch mal anzurufen. Ich komme dann am Samstag.«
»Ja«, sagt Lisa.
»Alles in Ordnung, mein Liebes?«, fragt Mutti besorgt.
»Ja«, wiederholt Lisa.
»Wie war es in der Schule? Habt ihr eine Arbeit geschrieben?«
»Mathe«, sagt Lisa.
»Oh je«, sagt Mutti.
»Vektoren«, sagt Lisa.
»Ach Gott«, sagt Mutti, »konnte Thomas dir das nicht erklären?«
»Ich hab ihn nicht gefragt.«
Mutti lacht. »Ist auch besser so. Er hätte dich nur noch mehr fertig gemacht.«
»Ja«, sagt Lisa.
»Du darfst ihm das nicht übel nehmen. Er ist nun mal so«, bittet Mutti. »Wir können froh sein, dass er da ist.«
Dazu sagt Lisa nichts.
»Nimm es nicht so tragisch«, sagt Mutti noch. Dann legt sie auf.
Lisa denkt an die Vektoren. Sie sieht Thomas’ nackte Oberschenkel, die einen Winkel bilden. Und dazwischen ragt dieser Pfeil auf, eine gerichtete Kraft. Das ist keine mathematische Größe. Das tut weh. Lisa weiß nicht, wie sie Mutti das erklären soll, wenn sie zurückkommt. Thomas hat ihr gesagt, da gibt es nichts zu erklären, weil sie selbst schuld ist, und deshalb soll sie kein Wort darüber verlieren. Für ihn ist das eine klare Rechnung: Ursache, Wirkung, Folgen, Schlussfolgerungen, Tatsachen. Und Lisa hat diesen Stein im Bauch und würde lieber mit den Kindern unten Hüpfekästchen spielen. Aber sie hat den Stein verschluckt, und er wird nie wieder herauskommen.
Wenn Lisa sich ganz weit über das Geländer beugt, dann kann sie den Pfeil in der Luft erkennen, der in das Hüpfekästchen weist, dahin, wohin sie ihren Stein fallen lassen muss. Sie weiß, dass sie den Kindern das Spiel verderben wird, wenn sie einfach so dazukommt. Aber sie kann nicht anders. Sie beugt sich jetzt so weit vor, bis die Richtung stimmt.
Und dann hüpft sie.
Michael Rapp
Der Pfahl
Simon öffnete die Augen. Der Rahmen fehlte. Kein Boden, keine Decke, nur blauer Himmel. Ein Schwindel überkam ihn, er sackte nach vorn, das Seil um seinen Bauch hielt ihn. Unter ihm erstreckte sich eine endlose weiße Landschaft. Schnee? Eis? Sein Herz pochte. Er griff unter sich, fühlte Holz, hart und faserig. Ein Pfahl und ein schmales Brett, das aus dem Pfahl ragte. Darauf saß er, auf einem Brett an einem Pfahl, hunderte Meter über einer Welt aus Eis.
Er versuchte, den Kopf zu drehen, und bemerkte, dass er nicht alleine war.
Es gab viele Pfähle. Mindestens hundert, vielleicht noch weitere hinter ihm. Die meisten waren leer, aber nicht alle. Nur drei Pfähle weiter löste ein dunkelhaariger Junge sein Sicherungsseil. Er war etwa zehn Jahre alt und musste kämpfen, um frei zu kommen. Weiter rechts hing eine Frau tot oder bewusstlos auf ihrem Brett. Ihr blondes Haar leuchtete förmlich in den Sonnenstrahlen. Neben ihr kletterte ein Mann an seinem Pfahl dem Boden entgegen. Sein verdrehtes Sakko diente ihm als Kletterhilfe, aber dann riss etwas. Ein Laut drang aus seiner Kehle, halb Winseln, halb Schluchzen. Er rutschte zwei Meter tief, ehe er seine Beine fester um den Pfahl schlingen konnte. Da hing er nun, klammerte, zitterte - und rutschte ein weiteres Stück ab. Simon konnte beinahe die Splitter fühlen, die sich in seine Schenkel zogen
Er schaute nach unten. Jetzt sah er, dass auf dem Eis Gestalten umherliefen. Er hatte sie zuerst übersehen, weil sie ebenfalls weiß waren. Es waren keine Menschen, nein, gesichtslose, androgyne Leiber mit kleinen Flügeln auf den Rücken, ähnlich den kitschigen
Weitere Kostenlose Bücher