24 kurze Albträume (German Edition)
Porzellanengeln, die seine Schwägerin zu Weihnachten ins Fenster stellte.
Die Engel begannen, an den Pfählen emporzuklettern.
Bilderzeugung, schoss es ihm durch den Kopf. 3D-Technik. Er dachte an seinen koreanischen 48- Zöller: Gebäude, Landschaften, ganz Mittelerde, alles fotorealistisch. Warum also nicht eine Welt aus Eis und Pfählen? Alles eine Frage der Technik. Kameras nahmen ihn auf. Ein Computer berechnete blitzschnell neue Bilder, abgestimmt auf seinen Blickwinkel. Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Bildfehler? Keine. Er warf den Kopf zurück. Die Sonne blendete – ein Scheinwerfer. Eiseskälte von unten – Trockeneis. Nichts als Klimakontrolle. Clevere Illusionen.
Auf keinen Fall saß er auf einem verfluchten Pfahl, dreihundert Meter über dieser Eishölle – Hölle? Der Gedanke pumpte eine Hitzewelle durch seinen Körper. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Woran konnte er sich erinnern? Ein Flugzeugsitz, kurzer blauer Flor, der Geschmack von Bitterlemon, verwelkter Beilagensalat, Seezunge und Petersilienkartoffeln. Er hatte in einem Bildband geblättert: Fidschi. Männer, die mit Speeren fischten und barfuß auf Palmen kletterten. Später hatte er das Leselicht gelöscht …
Für einen Augenblick war er wieder auf dem Sitz, fühlte ihn unter sich, fühlte die Hitze. Flackerndes Licht durchbrach die Dunkelheit.
…
Ein Schrei. Der Junge hatte den Halt verloren. Er stürzte, schlug in der Luft um sich und zerschellte auf dem Eis, als ob er selbst zu Eis geworden wäre. Kleine Bröckchen schlitterten in alle Richtungen; glitzernder Staub senkte sich auf die Aufschlagstelle. Simon fröstelte. Die beiden Porzellanengel am Pfahl des Jungen begannen den Abstieg.
Ein Rucken ging durch Simons Brett. Er blickte nach unten. Die Engel schlugen ihre weißen Klauen in das Holz. Sie erinnerten ihn an die karibischen Kokospflücker in dem Haiti-Bildband. Nur waren das keine drahtigen Polynesier, sondern gesichtslose Monster. Gemächlich kletterten sie höher, den augenlosen Blick auf ihn gerichtet. Es würde keine fünf Minuten mehr dauern, und sie hätten ihn.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Flugzeug, den festen blauen Sitz. »Blauer Sitz, blauer Sitz«, flüsterte er unentwegt und versuchte so intensiv wie möglich, sich den Sitz vorzustellen. Plötzlich hatte er das Gefühl, der Sitz sei wirklich da.
Als er die Augen öffnete, war er in der Kabine. Diesmal bekam er den Sicherheitsgurt los. Er sprang auf und fuhr herum. Flammen loderten zwischen den hinteren Reihen. Nichts wie raus, schoss es ihm durch den Kopf. Er stürmte los - und stolperte über ein Bein. Es war die blonde Frau. Blut klebte an ihrer Stirn. Ihre Finger umklammerten ihren Sitz. Der Kopf des Mannes neben ihr war unnatürlich auf seine Brust gesunken, offenbar war sein Genick gebrochen. Simon löste ihren Gurt, griff unter ihren Achseln durch, fasste ihren Unterarm und schleifte sie durch den Gang.
Die Maschine war in zwei Teile gerissen. Der Bug ragte zwanzig Meter entfernt aus der Erde, vollkommen zerstört. Er legte die reglose Frau ab, sprang ins Freie, rappelte sich auf und zog sie zu sich herunter. Rückwärts gehend schleppte er sie weg von der Absturzstelle. Das Feuer fraß sich rasend schnell durch die Reste der Kabine. Dichter schwarzer Rauch stieg in den Nachthimmel. Niemand sonst hatte es nach draußen geschafft.
Hilfe suchend blickte er sich um. Hinter einem nahen Kornfeld glänzten die Lichter eines Ortes. Der Kranz eines Maibaums pendelte im Wind. Er schauderte. Woran erinnerte ihn das Bild? Die Frau zu seinen Füßen hustete. Während er sich über sie beugte, begann eine Sirene zu heulen.
Yvonne Taddeo
Der
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