248 - Entfesselte Gewalten
welcher Art und wie groß sie auch sein mochte – sie hatte sie zur Jägerin gemacht und ihre Feindinnen zur Beute. Diese Erkenntnis erfüllte Elloa mit tiefer Genugtuung. Fast war sie geneigt, tatsächlich an die Gunst der Götter zu glauben.
Durch einen Wust aus Brettern und Latten hindurch arbeitete sie sich ins Freie. Es war dunkel. Mondschein glänzte über einem Meer aus Trümmern und Leibern. Überall lagen Leichen und verletzte Menschen. Eine umgekippte Kanone hatte einen Soldaten unter sich begraben. Eine Hand streckte sich aus der Gondel einer Roziere und winkte. Elloa hörte jammernde Hilferufe.
Die Wolkenstadt war abgestürzt!
Elloa begriff es erst, als sie die Wipfel des nächtlichen Waldes ein paar hundert Schritte entfernt in den Himmel ragen sah. Gas zischte aus einem Leck im Untergrund und ließ den Stoff eines zerstörten Stabilisierungsballons knapp über dem Boden flattern.
Und dann entdeckte sie ihre Gegnerinnen wieder: Naakiti und Babagaya kletterten zwischen zwei zerbrochenen Hausfassaden über den Rand der Stadt hinweg und verschwanden auf der anderen Seite.
Elloa lief an hölzernen Trümmerhalden vorbei auf den Stadtrand zu. Nach wenigen Schritten hielt sie inne, weil unvermittelt zwei Gestalten wie aus dem Nichts zwischen den Trümmern auftauchten. Ein weißer Mann mittleren Alters mit langem Haar – und einer, der einer plattnasigen Echse ähnelte und schuppig und viel größer war als der Weiße.
Elloa musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Daa'tan und Grao?! Waren sie ihrem Kerker entkommen?
Aber nein, der Weiße konnte nicht Daa'tan sein! Der Pflanzenmagier war keine zwanzig Jahre alt und dieser Mann dort Mitte dreißig. Aber er sah ihm sehr ähnlich. Das war… gespenstisch.
Doch selbst wenn sie es waren – Elloa hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Sie musste auch ihre beiden letzten Rivalinnen noch ausschalten – nicht nur, dass diese Weiber ihr nach dem Leben trachteten, sie waren auch Zeugen ihrer ersten Mordtaten gewesen. Also eilte sie weiter zu der Lücke in den Hausfassaden, durch die Naakiti und Babagaya die abgestürzte Wolkenstadt verlassen hatten.
Zwei Dutzend Schritte davor blickte sie zurück: Der Palast war vollkommen zerstört. Dahinter wölbten sich Trümmerhalden. Zersplittertes Holz ragte in den Himmel. Ziegen meckerten, Menschen riefen um Hilfe. Aber wie durch ein Wunder war kein Feuer ausgebrochen.
Schade eigentlich. Die Stadt war zerbrochen, eine Schutthalde, weiter nichts mehr. Elloa lauschte. Täuschte sie sich oder hörte sie unter den zahllosen Schreien hinter der Palastruine Pilatre de Roziers Befehlsstimme heraus? Oder rief auch er um Hilfe? Gleichgültig. Wenn sie ihm wieder begegnete, wollte sie die Einzige sein, mit der er noch sein Bett teilte; sein Bett und die Macht.
Sie huschte durch die Lücke in der Fassade, kletterte aus der Stadt und hielt nach Naakiti und Babagaya Ausschau. Keine hundert Schritte entfernt wankten sie über die vom Mondlicht beschienene Ebene auf die Baumgrenze zu. Eine stützte die andere. Wieder und wieder sahen die Frauen sich um. Sie schienen unter Schock zu stehen.
Den blutigen Saum des Hochzeitskleides hoch gerafft und in der Faust die blutige Klinge des Dolches, eilte Elloa hinter den beiden Rivalinnen her. Nicht einen einzigen Augenblick zweifelte sie daran, wer von ihnen dreien das Ende dieser Nacht noch erleben würde.
Als Naakiti und Babagaya den Rand des Dschungels erreichten, trennten sie nur noch vierzig oder fünfzig Schritte von ihrer Jägerin. Sie humpelten zwischen die Stämme der ersten Bäume. Elloa beschleunigte ihren Schritt.
Wenig später war sie Naakiti und Babagaya so nahe, dass sie das Weiße in deren Augen sehen konnte, wenn die Frauen sich nach ihr umblickten. Seltsamerweise bewegten sich ihre Gegnerinnen nicht weiter in den Wald hinein. Naakiti stolperte sogar und schlug lang hin, Babagaya ging neben ihr in die Knie und weinte. Dann stand Elloa nur noch drei Schritte entfernt von ihnen.
»Wie schnell sich alles ändern kann, nicht wahr?«, höhnte sie. Mit einem kurzen Seitenblick kontrollierte sie ihre Umgebung; es durfte keine weiteren Zeugen geben. Dabei erkannte sie, warum die beiden Frauen nicht weiter in den Wald eingedrungen waren: Pflanzen wucherten hier, die aussahen wie grauweißes, Fäden ziehendes Fleisch. Widerlich!
»Bald gibt es nur noch eine einzige Lieblingsfrau im kaiserlichen Harem.« Elloa hob den Dolch und ging auf die beiden anderen zu. »Und
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