25 - Ardistan und Dschinnistan II
Figur.“
„Figur? Was für eine Figur?“ frage er schnell.
„Wahrscheinlich ein Engel, denn ich sehe Flügel!“
Da schrie er laut auf: „Allah behüte uns vor –“
Ich unterbrach seine Worte, indem ich ihn beim Arm ergriff und ihn warnte:
„Nicht so laut, nicht so laut! Wir müssen vorsichtig sein!“
Da wiederholte und vervollständigte er seine Interjektion in leiserem Tone:
„Allah behüte uns vor dem neunmal geschwänzten und zehnmal
gesteinigten Teufel! Es scheint, wir befinden uns am schauderhaftesten
und unheilvollsten Ort, den es auf Erden gibt!“
„An welchem?“
„Am Maha-Lama-See!“
„Maha-Lama-See? Habe nie etwas von diesem See gehört!“
„Weil du ein Fremder bist, von so weit her! Gar von Europa! In Asien
aber ist er berüchtigt und gemieden, so weit es Menschen gibt!“
„Warum?“
„Weil hier Grausamkeiten, Gotteslästerungen, Sünden und Verbrechen
geschehen sind, die nicht nur einmal, sondern tausendmal von der Erde
zum Himmel hinauf- und vom Himmel wieder zur Erde herunterschreien.“
„Von wem?“
„Von den Lama-Priestern.“
„An wem?“
„An allen, die es wagten, ihnen zu widerstreben. Sie waren
eigentlich nicht Lama-, sondern Teufelspriester. Man erzählt sich von
ihnen Dinge, die man eigentlich für Menschen unmöglich halten sollte.“
„So erzähle! Wir befinden uns, wie es scheint, am ganz richtigen
Platz für derartige Erzählungen. Komm, setze dich! Hier stehen Bänke,
grad wie im letzten Raum des Kanals.“
Ich zog ihn nach einer dieser langen Steinbänke hin. Er folgte mir nicht gern.
„Man darf nicht davon sprechen.“
„Warum nicht?“
„Weil es gefährlich ist, zumal wenn das Wunder wirklich geschehen
wäre, daß wir uns hier am Maha-Lama-See befänden. Es heißt: Wehe dem,
der es wagt, die Stätte des einstigen Sees zu betreten oder auch nur
von oben herunterzuschauen! Man kann ja auch gar nicht zu ihm gelangen.
Es fällt auch gar keinem Menschen ein, nach ihm zu suchen, weil man
überzeugt ist, daß dies nur Verderben bringen würde. Man spricht nicht
von ihm; man denkt auch nicht an ihn. Darum sagte ich soeben, daß es
eine solche Stelle gar nicht gebe. Und darum ist es für mich noch
keineswegs erwiesen, daß wir uns am Maha-Lama-See befinden.“
„Das ist interessant, hochinteressant! Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem See?“
„Es ist eine Sage, an die man aber glaubt!“
„Auch du glaubst ihr?“
„Warum sollte ich nicht? Es ist auf Erden vieles wahr, was man für ein Märchen hält!“
„Ich drücke diesen deinen Gedanken anders aus: Es liegt in den
meisten Märchen und Sagen ein Wahrheitskern oder ein Wink versteckt,
nach dem man suchen soll, um ihn befolgen zu können. Wahrscheinlich ist
das auch hier der Fall. Wir bitten dich, zu erzählen!“
Er zögerte eine Weile. Er hatte anerzogene, gewohnte Scheu zu bekämpfen, dann aber begann er:
„Das war zur Zeit, als der Nebenfluß noch nicht zugebaut, sondern
offen war. Damals gab es einen Maha-Lama, welcher der berühmteste von
allen war, die es bisher gegeben hatte. Sein Volk liebte ihn, aber der
Teufel haßte ihn. Er war hundert Jahre alt geworden und ging an seinem
Geburtstag am Ufer des Flüßchens spazieren. Indem er dies tat, dachte
er: ‚Könnte ich doch noch hundert Jahre leben; wie glücklich wollte ich
meine Untertanen machen!‘ Da stand der Teufel vor ihm und sprach: ‚Du
kannst wenn du willst!‘ Er hob die Hand. Da gab es einen so
entsetzlichen Krach, daß die ganze Erde bebte. Sie tat sich vor dem
Maha-Lama auseinander. Es entstand ein tiefer, weiter Krater, in dem
das Flüßchen sofort verschwand, und rings um seinen Rand stiegen
steile, schroffe Felsenmauern auf, die ihn rund umschlossen. Kein
Menschenfuß konnte über sie hinweg. Der Maha-Lama war sehr erschrocken;
der Teufel aber sprach: ‚Beruhige dich; es geschieht dir nichts. Ich
bin gekommen, dir deinen Wunsch zu erfüllen, nicht aber, dich zu
vernichten. Du sollst genau noch hundert Jahre leben, und dein Volk
soll noch glücklicher sein als jetzt. Dafür verlange ich nur eins von
dir.‘ Der Maha-Lama fragte, was das sei. Der Teufel antwortete: ‚Das
Wasser des Flüßchens, welches jetzt in diesem Krater zu verschwinden
scheint, wird in ihm emporsteigen, so daß ein See entsteht. In diesem
See ersäufst du alle Menschen, die dich beleidigen und kränken. Weiter
verlange ich nichts von dir.‘ Da lachte der Maha-Lama und sprach:
‚Darauf kann ich eingehen, denn es gibt keinen
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