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25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Grad über uns stand jetzt plötzlich eine große, weiße Wolke, in der es innerlich wallte. Das konnte doch nicht schon das Wölkchen sein, auf welches Marah Durimeh gedeutet hatte! Da klangen die Glocken einer Kirche von unten herauf zu uns, noch einer und noch einer. Marah Durimeh faltete die Hände.
    „Laßt uns beten!“ forderte sie uns auf. „Gib Frieden, Herr, gib Frieden! Dieser Erde, diesen Menschen, uns allen! Allen denen, die nach uns kommen, und“, fügte sie hinzu, „auch allen denen die vor uns waren! Der Strom deines Friedens, deines Segens ist von neuem erwacht. Er ergieße sich von heute an über alle, die da leben und leben werden, damit, wenn sich dein Paradies bald morgen oder übermorgen öffnet und die allhundertjährige Engelsfrage in die Ohren und Herzen aller Irdischen schallt, die Antwort ertönen darf: ‚Ja, es ist Friede auf Erden; Gott aber sei Ehre, Ruhm und Preis!‘“
    Die Glocken erklangen weiter, und auch Marah Durimehs Gebet wirkte in uns weiter. Wir beteten still nach innen hinein. Ein jeder von uns machte seine persönliche Abrechnung mit sich selbst, mit der Menschheit, mit dem Geschick, mit dem Leben. Darauf richtete Marah Durimeh ihre Worte an den Schech el Beled:
    „Nun an das Rad! Du und der Mir von Ardistan!“
    Beide folgten dieser Aufforderung, der Schech schnell und bewußt, der Mir aber langsam, wie ein Träumender.
    „Es darf keine Speiche dieses Rades bewegt werden, ohne daß der Mir von Dschinnistan es gestattet“, fuhr sie fort. „Weiß er von heut?“
    „Er weiß alles und billigt es“, antwortete der Schech, und es klang, als ob er dabei lächle.
    Auch über ihr liebes, schönes, altes und doch so junges Gesicht zuckte eine kleine, kaum bemerkbare Schalkhaftigkeit, worauf sie, schnell wieder ernst, befahl:
    „So beginne du! Der Mir von Ardistan aber helfe!“
    Die beiden gehorchten. Das Rad drehte sich, ganz leicht, ohne alles Geräusch, als ob es sich nur um etwas Kleines, Gewöhnliches handle.
    „Komm und sieh!“ flüsterte Schakara mir zu.
    Sie nahm meine Hand und führte mich hinaus auf den Söller. Ich schaute hinab. Welch ein Wunder! Ganz unten, auf dem Grund des Kessels, brachen jetzt plötzlich unter den Aquädukten schäumende Wasserwogen hervor, deren Masse sich vergrößerte, je weiter man hier oben am Rad drehte. Noch klangen die Glocken. Sie wurden aber von dem brausenden Jubel übertönt, der von allen Lippen der Bewohner von El Hadd erschallte.
    „Noch ist es Zeit, innezuhalten“, sagte Marah Durimeh; „dann aber können wir nicht mehr zurück. Sind die Menschen wirklich gewarnt? Wenn nicht, so muß dieser Strom Verderben bringen anstatt Segen.“
    „Sie sind gewarnt“, antwortete der Schech. „Ich habe den Befehl dazu schon am Dschebel Allah gegeben, und schneller, als das Wasser ist, haben unsere Posten die Kunde bis in das Land der Ussul getragen. Hier in El Hadd aber weiß jedermann, was heut und morgen geschieht. Nur der ‚Panther‘ weiß von nichts!“
    „So führt das Werk zu Ende!“
    Das Rad bewegte sich weiter, und der Doppelstrom, der sich in das Felsenbecken ergoß, wurde immer mächtiger. Ein tiefes, eintönig dröhnendes Brausen drang zu uns herauf. Es vergingen Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Da meldete der Schech:
    „Fertig! Das Rad steht!“
    „So stehe es von jetzt an bis in Ewigkeit, nach irdischer Zeit gerechnet!“ sprach Marah Durimeh. „In diesem Augenblick ist der Schwur von Dschinnistan gelöst. Die Eltern dürfen sich dem Sohne zeigen. Laßt froh die Schleier fallen!“
    Ich schaute noch in die Tiefe hinab, als ich diese Worte hörte. Man sah die Wasser nicht mehr; man vernahm nur noch ihr Brausen. Das Dunkel des Abends kam emporgestiegen.
    „Komm!“ bat Schakara.
    „Wohin?“ fragte ich.
    „Nach dem Schloß. Wir wollen hier nicht stören. Diese heiligen Augenblicke sind nicht unser Eigentum.“
    Sie nahm mich wieder bei der Hand und führte mich vom Söller durch den Raum nach einer der erwähnten beiden Türen, die sie öffnete. Im Vorübergehen sah ich, daß die Schloßherrin sich soeben entschleierte. Ich erkannte das Gesicht, welches ich in der ‚Dschema der Toten‘ beobachtet hatte.
    „Mutter!“ rief der Dschirbani, indem er die Arme ausbreitete, um auf sie zuzueilen.
    Sie deutete nach dem Schech el Beled, der soeben auch den Schleier von sich warf.
    „Vater, mein Vater!“ jubelte der Dschirbani.
    Mehr aber hörte und sah ich nicht, denn Schakara zog mich hinter

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