253 - Das Terror-Gen
Gattin des Lordkanzlers hatte vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet. Von den Klippen war sie gestürzt. Was sie dort ganz alleine gewollt hatte, wusste niemand. Die Wenigsten glaubten an einen Unfall. Viele behaupteten, jemand hätte sie hinunter gestoßen. Und natürlich kam auch wieder einmal das Gerücht von den Blutsaugern ins Spiel, die im Verborgenen auf Guunsay leben sollten.
Doch alle Ermittlungen, die Gundar anstellen ließ, verliefen im Sande. Und irgendwie hatte Wallis auch den Eindruck, als läge dem Lordkanzler gar nicht daran, die Wahrheit zu erfahren. Überhaupt hatte sich Gundar seit jenem Tag verändert, zu seinem Nachteil.
Sainpeert ist nicht mehr das, was es einst war. Mit dieser unerfreulichen Einsicht erhob sich Wallis vom Poller und streckte seine Glieder. »Vielleicht hätte ich einfach Robart begleiten sollen, um mal was anderes zu sehen«, seufzte er leise. Robart, der Retrologe des Lordkanzlers, war vor wenigen Tagen mit einem Dreimaster aufgebrochen, um in fernen Ländern für den Herrscher nach Artefakten der Alten zu forschen.
Müde blickte der rothaarige Ire sich um. Die Menschen auf dem Markt teilten anscheinend nicht sein Problem: Lautstark und emsig boten sie ihre Waren feil. Der Tuchhändler aus Bordoo, der vor Wochen in Sainpeert vor Anker gegangen war, machte heute ein gutes Geschäft. Fünfzehn Hofdamen des Châteaus umringten seinen Stand. Schnatternd und lachend wühlten sie sich durch Seide und Brokat. Die Leute vom Tomatenstand gegenüber beobachteten das Treiben mit neidischen Blicken. Sie würden auf ihren reifen Früchten, die sie gewöhnlich nach Übersee verkauften, sitzen bleiben. Abseits von den Ständen und Buden hatten sich Schulkinder mit ihrer Lehrerin um einen alten Fischer versammelt, der ihnen geduldig die Kunst der Knotenknüpferei zeigte.
Selbst der Anblick der neugierigen Kindergesichter konnte den Berater des Lordkanzlers heute nicht aufheitern. Mit schleppenden Schritten näherte er sich seinem verwaisten Arbeitsplatz unter dem golddurchwirkten Baldachin. Das große Notizbuch lag wie ein dunkler Sargdeckel auf dem Tisch aus Fichtenholz. Auf den Besucherbänken davor lümmelten sich Wallis' Assistenten und scherzten mit den jungen Marktfrauen.
Vielleicht sollte er die beiden für heute entlassen. Es war nicht davon auszugehen, dass er jetzt noch Verträge mit reisenden Händlern abschließen würde oder Quittungen für die Hafengebühr ausstellen musste. Missmutig fuhr er sich durch seinen kurz geschnittenen Rotschopf. Vermutlich werde ich heute außer essen und schlafen gar keine sinnvolle Handlung mehr vollziehen.
Doch Wolter Wallis irrte. Er hatte den Platz unter dem Baldachin gerade betreten, als aufgeregte Rufe ertönten. »Da kommt was die Hügel herunter!«, brüllte eine Männerstimme. - »Eine Windhose!«, schrie eine Frau. - »Blödsinn, das ist eine wild gewordene Wakudaherde!«, schallte es aus einer anderen Ecke. Alarmiert ließen die Leute alles stehen und liegen. Sie liefen zu der Menschentraube, die sich inzwischen am Rande des Platzes gebildet hatte.
Der rothaarige Ire reckte vergeblich den Hals. Er war nicht gerade mit körperlicher Größe gesegnet und kletterte kurzerhand auf eine der Besucherbänke. Das Okular vor seinen Augen, sah er zunächst nur eine gewaltige Staubwolke, die sich die Straße im Osten hinunter schob. Doch als das Gewölk den befestigten Untergrund vor der Stadtgrenze erreicht hatte, klopfte Wallis' Herz bis zum Hals. »Ein Automobil«, flüsterte er heiser; er kannte den Ausdruck von seinem Retrologenfreund.
Von Robart wusste er auch, dass seit fast einem Jahr nur noch die mechanischen Hinterlassenschaften der Alten funktionierten, und nichts mehr, das in irgendeiner Weise Stroom benötigte. Wie konnte es also sein, dass…
Sein Gedankengang brach ab, als er erkannte, was sich vor dem Automobil befand: Man hatte einen Wakuda vor das Gefährt gespannt, der es im Galopp zog.
Doch wer war »man« ? Durch sein Okular sah Wallis Menschen im Wagen sitzen. Fremde! Wo kamen sie her? Was hatten sie vor? Egal! Wolter sprang von der Bank, rannte an den verlassenen Marktständen vorbei und drängte seinen kleinen stämmigen Körper durch die Menge. Er spürte deutlich, dass dieser Tag eine hoch erfreuliche Wendung nahm.
Sein Gefühl trog den rothaarigen Iren nicht. Im Gegenteil. Die Fremden und ihre Anliegen - nachdem sie den Wakuda mühsam zum Stehen gebracht hatten - übertrafen all seine Erwartungen. Es handelte
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