255 - Winterhexe
begleitet von zwei jüngeren Knaben. »Ihr wollt hier übernachten?«, fragte er mit kieksender Stimme.
»Ganz recht.« Aruula trat näher zu ihm und achtete dabei auf seine Augen. Obwohl Lindsey seine Blindheit ja bestätigt hatte, blieben Zweifel. Die Augen des Jungen waren klar wie bei einem Sehenden. Keine Verletzung, keine Spuren einer Erkrankung.
»Ich weiß, wo ihr unterkommen könnt«, fuhr Damian fort. »Bei einem guten Freund, um den ich mich kümmere. Er wird sich über etwas Gesellschaft freuen, ich bin mir sicher. Er ist… ein wenig barsch, aber das ist nur Fassade. Er hat ein Herz aus Gold.« Ohne ein Antwort abzuwarten, wandte sich Damian zum Gehen. Die beiden Jungs drehten sich synchron; sie hatten noch kein Wort gesprochen. »Kommt. Ich mache euch miteinander bekannt. Habt keine Angst. Er bellt, aber er beißt nicht.«
Leise lachend setzten sich der seltsame Junge und seine Begleitung in Bewegung. »Die Horseys könnt ihr natürlich mitnehmen!«
Die drei Gefährten tauschten Blicke.
»War das gerade eine Einladung ?«, ächzte Rulfan.
***
Matthew Drax war immer noch damit beschäftigt, den Auftritt des blinden Jungen zu verdauen, der ihnen mit schlenkernden Armen voraus schritt, die Finger immer wieder über seine Begleiter tastend, blitzschnell und fast unmerklich.
»Er ist faszinierend, nicht wahr?« Aruula ging auf der anderen Seite des Pferdes. Matt führte sein Horsey am Zügel durch den kleinen Ort. Sie hatten Damian eingeholt, hielten aber bewusst ein wenig Abstand zu ihm und achteten auf die Reaktion der Dörfler. Missmutig schauten sie drein.
»Sie verdammen den Jungen«, flüsterte Aruula. »Sie denken, dass er ihnen schadet, weil er uns Unterkunft verschafft. Wobei… Irgendetwas scheint mit dieser Unterkunft nicht zu stimmen. Ihre Gedanken daran sind sehr zwiespältig.«
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Damian steuerte auf den Blickfang zu, der sich Matt, Aruula und Rulfan nach der nächsten Straßenbiegung unvermittelt bot. Ein… ja, was eigentlich? Haus? Hütte? Ruine?
Von allem etwas, befand Matt im Näherkommen.
»Sieht aus«, raunte ihnen Rulfan zu, »als wäre hier mal ein Haus eingestürzt, und man hätte ein neues, kleineres auf dem Schutt errichtet. Nicht sehr fachmännisch, wenn ihr mich fragt.«
»Sollen wir da drin wirklich übernachten?«, fragte Aruula unsicher. »Bei der geringsten Erschütterung bricht doch alles in sich zusammen!«
Damian hatte sich vor die grob gezimmerte Tür gestellt und verabschiedete sich gerade von den Jungs, die ihm geholfen hatten, sich zu orientieren. Freundschaftlich klopften sie ihm auf die Schulter, ehe sie gingen.
»Nur keine Scheu!«, rief der blinde Junge den drei Gefährten zu. »Ich geh schon mal rein und rede mit meinem Freund. Kommt einfach nach. Die Tiere könnt ihr hier draußen festbinden. Euer Gepäck nehmt besser mit.«
»Äh, Damian…«, begann Matt, aber da war der Junge schon in der Ruine verschwunden.
»Du hast doch nicht ernsthaft vor, ihm zu folgen?«, wandte sich Aruula an Matt.
Der zuckte mit den Schultern. »Das Haus ist drinnen sicher sehr viel wohnlicher, als es von außen aus den Anschein hat. Wäre der Junge sonst so sorglos hineingegangen?«
»Er ist blind «, erinnerte Aruula kühl.
»Aber nicht blöd«, konterte Matt. »Ich denke, wir können seinem Urteilsvermögen vertrauen.« Er band sein Horsey fest und steuerte die Tür an. »Kommt ihr?«
Rulfan folgte ihm grinsend mit der hinkenden Chira. Aruula stand noch eine Weile da, nachdem die beiden im Haus verschwunden waren, und sah sich nach allen Seiten um.
Zuschauer, die sie betrachteten, gab es zuhauf. Jeder ihrer Schritte stand unter Beobachtung.
Letztlich gab die Ablehnung der Dörfler den Ausschlag. Mit provokanter Miene und Körpersprache stolzierte sie hüftschwingend auf den Eingang zu.
Noch bevor sie eintrat, traf sie ein Hauch eisiger Kälte, der ihren Blick zum Himmel hinauf lenkte. Er sah aus wie ein riesiges bleiernes Gewicht, das jederzeit herabstürzen und alles unter sich zermalmen konnte.
Die Brise ein kurzes Stück mit über die Schwelle nehmend, trat sie in das baufällige Haus. Um die Tür zu schließen, musste sie sich dagegen stemmen, so viel Kraft bot der Wind plötzlich auf.
Im Halbdunkel erkannte sie die, die voraus gegangen waren.
Und den, der sie erwartet hatte.
***
Matt starrte auf die Gestalt, die vor einem Kamin saß, in dem ein Torffeuer brannte und eine Ahnung von wohliger Wärme im Raum verbreitete.
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