255 - Winterhexe
erklärte Gwaysi, ohne dass es nach Prahlerei klang.
»Na, dann beweise es mir.« Rothschild stieg aus, zog den Rucksack mit dem Artefakt hinter dem Sitz hervor und streifte ihn über.
Mit einem letzten, bedauernden Blick auf das Fahrzeug setzten sie sich in Marsch. Die aufgehende Sonne wärmte ihre von der Nacht durchfrorenen Glieder. Irgendwo stimmten Grillen ihr Morgenkonzert an. Ein leichter Wind ging.
Erst jetzt war Rothschild in der Lage, sich über ihr Entkommen - und Überleben - in dem Maße zu freuen, wie es sich gebührte. Das Leben war zu schön und zu wertvoll, um es einfach wegzuwerfen. Kein Artefakt der Welt war das wert.
»Woran denkst du?«, fragte Gwaysi.
Er fühlte sich nicht im Stande, es ihr mit Worten zu vermitteln. Stattdessen sagte er: »Erzähl mir von dir. Erzähl mir, wie du zu Corr gekommen bist.«
Sie versuchte sofort wieder, Schranken zu errichten und sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen. »Es würde dich nur langweilen.«
Er blieb kurz stehen und lächelte. »Okay, dann langweile mich. Bitte!«
Sie musste spüren, dass er es ernst meinte, denn mit einem Mal löste sich ihre Zunge, und im Weitergehen begann sie zu erzählen…
5.
Ende Oktober 2525
Stille.
Es war die fast vollkommene Stille nach einer lärmenden Nacht, in der der Sturm an Dach und Fassade des abbruchreif wirkenden Häuschens von Ben Coogan gerüttelt und um seine Ecken geheult hatte.
Rulfans feines Gespür für Veränderungen meldete sich mit Magengrummeln, und irgendwie hatte er, noch bevor er die Augen aufschlug, das Gefühl, zu spät zu sein.
Zu spät wofür?
Er richtete sich auf. Der Bretterboden knarzte wegen der Gewichtsverlagerung. Durch die halboffenen Lider sickerte das wenige Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden ins Innere des Gebäudes strömte.
Rulfan spürte sofort, was fehlte. Die Hand auf dem Fell der Lupa, war er eingeschlafen. Die Hand war noch da, das Fell nicht. Er pfiff leise, wie er es oft tat, wenn er mit Chira kommunizierte. Menschen wurden davon selten wach, aber für die Wölfin genügte der schwache Ruf, um zu reagieren.
Aber sie kam nicht.
Rulfan erhob sich in einer fließenden Bewegung in den Stand. Vier Menschen außer ihm selbst verteilten sich über die Innenfläche des Häuschens. Das Feuer im Kamin war erloschen, selbst die Glut inzwischen erkaltet.
Rulfan durchmaß den Raum so leise er konnte, um auch die letzten Versteckmöglichkeiten für Chira auszuschließen. Indes schlug sein Herz schneller. Es war unmöglich! Die einzige Tür, durch die man das Haus betreten oder verlassen konnte, war immer noch verschlossen, der Schnappriegel nur von innen zu öffnen.
»Was ist los?«
Matthews leise Stimme erreichte Rulfan, als er sich an dem Riegel zu schaffen machte und prüfte, ob er die Tür tatsächlich verschlossen hielt. Er öffnete sie einen Spalt, lugte nach draußen… und traute seinen Augen nicht.
»Schnee«, entfuhr es ihm, bevor er sich zu Matt umwandte und ihm eröffnete: »Chira ist verschwunden.«
»Entschuldige«, sagte Matt und erhob sich von seinem Nachtlager, »aber ich habe gerade ›Schnee‹ verstanden.« Mit drei Schritten war er bei Rulfan, der die Tür immer noch eine Handspanne breit geöffnet hielt. Eisige Luft wehte herein.
»Sieh selbst.« Der Neo-Barbar zog die Tür noch ein wenig weiter auf. Matt trat neben ihn, spähte hinaus ins Freie.
Es hatte tatsächlich geschneit, und zwar recht heftig. Die weiße Decke war mindestens zehn Zentimeter dick. Nur rings um das Haus, wo das Dach überhing, lag kein Schnee.
»Gestern sah's noch nicht danach aus. Der Sturm heute Nacht muss die Wende gebracht haben.«
Erst als ihre Stimme dicht hinter ihnen erklang, merkten die beiden, dass Aruula zu ihnen getreten war. Einzig Ben Coogan und sein Ziehsohn Damian schienen noch tief und fest zu schlafen.
»Und wie war das mit Chira?«, wandte sich Matt an Rulfan.
»Verschwunden«, sagte der Barbar.
»Was heißt ›verschwunden‹?«
»Sie war weg, als ich vorhin wach wurde.« Rulfan öffnete die Tür jetzt ganz, sodass sie freien Blick nach draußen auf die Schneedecke hatten. »Da! Eindeutig, oder?«
Auch Matt und Aruula konnten jetzt die Spuren sehen, die typisch für Lupas waren. Noch typischer für Chira, denn einer der Vorderläufe war eher über den Schnee »gewischt« als geschritten, wofür Chiras geschientes Bein verantwortlich war.
»Aber wie ist sie rausgekommen?«, murmelte Rulfan kopfschüttelnd.
»Die Hexe hat sie
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