2574 - Das Lied der Vatrox
sie tief und traumlos, und doch hatte sie das
Gefühl, jeden Morgen müder aufzuwachen. Manches war für sie nachvollziehbar, anderes nicht.
Eines jedoch ließ sich nicht leugnen: Das Gedankenlesen war keine einmalige Sache gewesen, und
es hatte auch nichts damit zu tun, dass Garona ihre Schwester war. Irgendetwas hatte die bis
dahin schlummernde Gabe aktiviert und Cagra zur Gedankenleserin gemacht. Und ihre Fähigkeiten
waren weitaus stärker als ursprünglich angenommen.
Als der ehemaligen Kommandantin das klar wurde, machte sie sich auch keine Illusionen über ihr
weiteres Schicksal. Sie kam nie mehr aus dieser »wissenschaftlichen Einrichtung« raus.
Doch ganz so kam es nicht. Eines Tages standen wiederum zwei »Begleiterinnen« vor ihrer Tür
und forderten sie auf, ihnen zu folgen. Zu Cagras Erstaunen wurde sie zu einem Gleiter
eskortiert.
Zum ersten Mal wieder zu fliegen, wenn auch nicht selbst steuern zu können, war ein erhebendes
Gefühl. Cagra vermisste das All unendlich, ihr Kommandantenpodest, die Steuerung in Händen.
Alles, was sie wollte, war dorthin zurückzukehren.
Der Gleiter flog auf das Zentrum zu und steuerte am Rand eines riesigen Platzes den Ausleger
eines überraschend niedrigen und bescheiden aussehenden Gebäudes an. Nicht einmal zwanzig
Stockwerke, und die Form war interessant, das Dach wie eine Kuppel geformt, die Kanten mit Bögen
verziert, die irgendwie an ein stilisiertes Abbild des Vatar-Systems erinnerten.
In einem Konferenzraum warteten sechs Frauen auf Cagra, zwei jünger und die anderen deutlich
älter als sie.
»Ich bin Usenba Sirenoch«, ergriff zu Cagras Erstaunen die Jüngste der sechs das Wort. Sie war
eher klein und sehr zierlich, doch ihre Hautfalten zeigten einen starken Willen.
Wie fühlst du dich?, wurde gleichzeitig die erste Frage lautlos gestellt.
Cagra war verblüfft, bisher hatte sie nie kommuniziert, sondern sich vielmehr darauf
konzentrieren müssen, die Gedanken anderer zu erkennen. Es war nicht so, dass sie durch ihre Gabe
automatisch die Gedanken aller empfangen konnte, sondern sie musste sich aktiv konzentrieren.
Danke, gut, antwortete sie. Wie leicht das geht...
Ja, weil wir beide ausgebildet sind und einen bestimmten Grad an Begabung
haben.
Usenba Sirenoch wies auf die Stühle, und sie nahmen alle Platz. Die anderen Frauen stellten
sich nicht weiter vor, aber sie schickten einen kurzen, höflichen Gedankengruß an Cagra.
»Unser Volk«, sprach die Wortführerin, »ist dabei, einen neuen Weg zu beschreiten. Was uns
sehr dienlich ist. Über viele Generationen hinweg haben wir uns zuerst unsere Heimat Untertan
gemacht. Dann konnten wir uns mit Entwicklung der Raumfahrt das ganze Vatar-System zunutze
machen. Doch hier stoßen wir an unsere Grenzen, denn nach wie vor ist es uns nicht möglich,
Überlichtgeschwindigkeit zu erreichen.«
»Deshalb bemühe ich mich auch, bessere Systeme zu entwerfen, die ...«, setzte Cagra an, doch
sie wurde unterbrochen.
»Das haben wir zur Kenntnis genommen, und deine bisherigen Erkenntnisse und Erfahrungen werden
uns sicherlich von Nutzen sein. Doch das ist nicht Aufgabe und Ziel dieses Ordens.«
Cagra horchte auf.
Usenba neigte den Kopf nach links. »Ganz recht: Orden. Dieses bescheidene Gebäude hier
ist der Sitz des Vamu-Ordens.«
»Ein großer Name«, stellte die ehemalige Kommandantin fest. »Um nicht zu sagen:
hochtrabend.«
Vamu war der bedeutendste und stärkste Begriff im Wortschatz der Vatrox. Er bedeutete
»das Erste, das Einzige, das Einzigartige«.
Usenba zog die Lippen nach oben. »Aber er trifft es genau, denn wir haben vor, die Geschicke
des Volkes in unsere Hände zu nehmen.«
»An der Regierung vorbei?«
»Das ist kein Problem.« Usenba wies auf zwei ältere Frauen. »Diese gehören dem
Regierungsgremium an. Aber lass es mich erklären: Während die Raumfahrtbehörde sich um bessere
Technik bemüht, bemühen wir uns um bessere Vatrox. Und besser heißt in diesem Fall: höher entwickelt. Wir wissen nicht, wodurch es ausgelöst wurde, doch es hat sich
herausgestellt, dass seit einigen Generationen Veränderungen auftreten, die Frauen dazu
befähigen, Gedanken zu lesen.«
»Was, nur Frauen?«
»Ja. Es ist erstaunlich, und wir haben keine Antwort darauf, aber kein einziger Mann hat auch
nur annähernd eine Fähigkeit wie unsere entwickelt. Im Gegenteil: Es ist uns sogar unmöglich, die
Gedanken der meisten Männer zu lesen.
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