261 - Ein falscher Engel
Rulfan, dass sie tatsächlich ihn im Blick hatte. Ihr Gesicht war unverwandt auf ihn gerichtet.
Jetzt bemerkte es auch Myrial. Sie musterte Rulfan mit gerunzelter Stirn. Instinktiv trat sie einen Schritt näher an ihn heran und fasste ihn am Mantel.
Plötzlich setzte sich die Rothaarige in Bewegung – direkt auf Rulfan zu! Dabei klaffte ihr Mantel vorne auf und legte ein seltsames Riemengeflecht frei, das sich um ihre ansonsten nackte Haut legte und viel davon sehen ließ. Langsam ging sie, irgendwie eckig, ihren starren Blick nach wie vor auf ihn gerichtet. Ihre Hände krampften sich zu Fäusten, öffneten sich wieder. Fast mechanisch schob sie zwei Frauen zur Seite, die ihr im Weg standen.
Als sie bis auf vier, fünf Schritte heran war, sah Rulfan Tränen in den Augen der Fremden schimmern. Mehr noch: Ihr Körper unter dem offenen Mantel wurde von lautlosen Weinkrämpfen geschüttelt!
Der Albino stand der absolut irrealen Situation einigermaßen hilflos gegenüber. Da er nicht wusste, auf was das Ganze hinauslief, umklammerte er vorsichtshalber den Driller. Trotzdem, ein Angriff schien es nicht zu sein.
Nun stand die Rothaarige vor Rulfan. Vorsichtig berührte sie seine Wange, während ihre Tränen nun erst richtig strömten. Rulfan bemerkte, wie Myrial an seiner Seite verkrampfte.
Plötzlich sank die Frau auf die Knie. Sie umklammerte Rulfans Oberschenkel, drückte ihre Wange dagegen.
»Was soll das?«, fragte er ungehalten. Er packte die Frau am Arm und zog sie hoch.
Ein paar heisere Töne lösten sich aus ihrer Kehle. Rulfan musste genau hinhören und glaubte zuerst, sie nicht richtig verstanden zu haben. »Was sagst du?«
»Mein Aynjel«, flüsterte sie in der Sprache der Wandernden Völker und schaute den Albino mit verklärtem Blick und immer noch tränenverschleierten Augen an. Er verstand nur Teile von dem, was sie sagte, und reimte sich den Rest zusammen. »So viele Jahre… dich gesucht. Nun endlich… dich gefunden, so plötzlich … unverhofft, mein Aynjel. Ich wusste … dich eines Tages finde … habe niemals aufgegeben. Nie mehr wieder … von deiner Seite weichen … gib mir deine Erlösung.«
Rulfan wusste nicht, was er von dieser Verrückten halten sollte.
Der Albino wehrte nun die Hand, die schon wieder in sein Gesicht tastete, energisch ab und hielt das Gelenk umklammert. »Was soll das? Ich weiß nicht, wer du bist, und ich bin kein Engel, verstehst du? Schon gar nicht deiner.« Er funkelte sie böse an. Dass die Exekutoren im Hintergrund zu ihren Schwertern griffen, behagte ihm überhaupt nicht. Doch sie beließen es vorerst dabei. »Wahrscheinlich verwechselst du mich mit jemandem«, fügte er versöhnlicher hinzu.
Das Verklärte wich aus ihrem Gesicht. »Bist du… nicht Rulfan?«, flüsterte sie.
Dem Albino lief es eiskalt über den Rücken. »Woher kennst du meinen Namen?«, entfuhr es ihm unwillkürlich.
Das Reden schien die Rothaarige ungeheuer anzustrengen. Ihre Worte wurden undeutlicher. Rulfan hatte Mühe, sie zu verstehen.
»Dann bist du mein Aynjel… Rulfan … bleibe immer bei dir …«
Rulfan trat zurück. »Nein, das kannst du nicht«, sagte er laut und legte demonstrativ seinen Arm um Myrial. Daraufhin schoss die Exekutorin wütende Blicke auf sie ab, sodass Rulfan sich fragte, ob er nicht soeben einen krassen Fehler begangen hatte.
»Bist du… Aynjel dieser Frau, Rulfan?«, fragte die Fremde, und Rulfan sah, dass sich ihre Hand um den Knauf eines Dolches in ihrem Gürtel schloss. »Bist du … an sie gebunden?«
Der Albino ahnte, worauf die Frage abzielte. Um Myrial nicht in Gefahr zu bringen, antwortete er: »Nein, das bin ich nicht.«
Sie strahlte. Ein Seufzer der Erleichterung drang aus ihrer Kehle.
Und Rulfan verstand ihre Worte jetzt mit jeder Sekunde besser und vollständiger. »Ich wusste es. Ich habe dich gleich erkannt. Du bist also doch ein Aynjel, Rulfan. Aynjel sagen nicht sofort, dass sie Aynjel sind, das weiß ich.«
Das war dann ja wohl ein klassisches Eigentor. Die bastelt sich ihre Welt gerade so zurecht, wie sie sie braucht , dachte Rulfan und fragte laut:
»Wie heißt du überhaupt?«
»Ninian«, antwortete sie hoffnungsfroh.
Myrial, der diese Frau sichtlich unheimlich war, zog an Rulfans Arm. »Komm, wir müssen gehen«, sagte sie und er hörte Angst in ihrer Stimme mitschwingen.
»Ja, lass uns gehen«, erwiderte er und zog nun seinerseits Myrial mit sich. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, dass Ninian ihnen mit
Weitere Kostenlose Bücher