261 - Ein falscher Engel
Kriegerin kaum ertrug. Der Einzige, nach dessen Nähe sie sich sehnte, hieß Rulfan. Aber der war schließlich auch ein Aynjel und kein Mensch.
Wenn sie ihn erst gefunden hatte, würde er ihr all die Fragen beantworten, die sie so sehr plagten: Warum unterschied sich ihr Leben, obwohl es richtig war, doch so sehr von dem der meisten anderen Menschen? Warum lebten Menschen zusammen, obwohl es keinerlei Zweck diente? Wie konnten sie Sehnsucht nach jemandem empfinden, der nicht über ihnen stand und sie nicht erzogen hatte?
Ninian war intelligent genug, um sich diese Fragen zu stellen, denn sie schaffte es nicht, ihre eigene Welt mit der außerhalb in Einklang zu bringen. Sie sah sehr wohl, dass es zwei Welten gab, und grübelte immer wieder in quälenden Stunden darüber nach, ohne bisher zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt zu sein. Zu gerne hätte Ninian mit anderen Menschen darüber gesprochen, aber zum einen hinderte sie ihr Schweigegelübde daran, zum anderen hätte sie ihre dunklen Geheimnisse offenbaren müssen, was nicht geschehen durfte, wie ihr schon der Herr beigebracht hatte.
Es gab nur einen Ausweg für Ninian aus diesem schlimmen Dilemma: ihr Aynjel. So war er zwangsläufig zu ihrer Lichtgestalt geworden, zu ihrer Erlösung, zu dem einzig wichtigen Fixpunkt in ihrem Leben. So wichtig, dass sie der Suche nach ihm sogar das Leben ihres Herrn geopfert hatte. Denn ihr Aynjel hatte sich ihr einst in Gestalt einer Sklavenhändlerin offenbart und sie aufgefordert, ihn zu suchen. Warum sonst hätte er ihr ein genaues Bildnis von sich hinterlassen sollen?
Nachdem Ninian diese Suche wegen der übermächtigen Präsenz ihres Herrn viele Jahre lang nicht in Angriff genommen hatte, hatte ihr der Aynjel erneut ein Zeichen gesandt, indem er ihr seinen Namen und seinen ungefähren Aufenthaltsort übermittelte. Es hatte wohl genau dieses Zeichens bedurft, damit sich Ninian von ihrem Herrn lösen und dem wahren Ziel ihres Lebens widmen konnte.
Wieder wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück…
Meeraka, 2510
Ninian weinte stille Tränen. Sie drückte sich in eine dunkle Ecke des unheimlichen Gefährts, wurde aber trotzdem bei jeder Unebenheit des Weges kräftig durchgeschüttelt.
Drei Sommer war es jetzt her, dass diese furchtbare Krankheit in ihr Haus eingezogen war und sie stumm hatte werden lassen. Seither wurde sie ausgegrenzt und zog sich in der Folge immer häufiger in sich selbst zurück. Onkel Karell und seinem Anhang, die sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen hatten, war sie sogar unheimlich geworden, wenn sie stundenlang vor sich hin starrte, ihren Oberkörper wiegte und auf keine der ohnehin seltenen Ansprachen reagierte.
Onkel Karell hatte eine Lösung gefunden. Er verschacherte das hübsche Mädchen mit den auffallend hellen Augen an einen der umherziehenden Sklavenhändler.
Und nun saß Ninian hier im Sklavenkarren, zusammengepfercht mit zehn anderen Kindern. Trotz ihrer Angst war sie froh, endlich von Karell weg zu sein, der sie als »dummes Carbukk« verhöhnt, verspottet und geschlagen hatte, so wie alle anderen Familienmitglieder auch.
Das Mädchen musterte die anderen Kinder mit scheuen Blicken.
Aber auch die schwiegen und schauten sie nur ab und zu flüchtig an. Es war ihr recht so, denn sie kannte nichts anderes, obwohl sie in der Zwischenzeit wieder reden konnte, wenn auch mühsam. Aber mehr als zwei, drei Mal hatte sie es nicht ausprobiert. Wozu auch?
Die Fahrt verlangsamte sich plötzlich, der Karren kam zum Stehen. Die Tür wurde aufgerissen. Ninian schloss geblendet die Augen.
»Raus mit euch, aber rasch!« Die Frauenstimme, die die Kinder aufschrecken ließ, war es gewohnt, Befehle zu erteilen. Unangenehm war sie dennoch nicht.
Alle Sklavenkinder erhoben sich aus ihrer zusammengekauerten Haltung und sprangen nacheinander aus dem Wagen. Ein Mädchen begann zu weinen.
Ninian weinte nicht, obwohl auch ihr danach zumute war. Als sie die Tür erreichte, sah sie, dass die Frau neben dem Wagen stand. Sie hatte lange dünne, graubraune Haare, die ein verhärmtes Gesicht umrahmten.
»Du nicht!«, forderte sie Ninian auf. »Zurück in den Wagen!« Hastige Handbewegungen unterstrichen den Befehl.
Ninian gehorchte. Sie war viel zu verängstigt, um auch nur an Widerstand zu denken. Die Frau kletterte ebenfalls ins Innere.
»Du bist ein hübsches Mädchen.« Ninian nickte, ohne zu zögern.
»Und ein selbstbewusstes noch dazu«, sagte die Frau. »Ich glaube, es
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