264 - Verschollen
Tartus Marvin Gonzales fasste sich als erster wieder. »Wozu eine Ortung, wenn niemand draufguckt? Das wäre fast das Ende der Expedition gewesen! Konzentration, Leute! Ich erwarte äußerste Konzentration!« Er wandte sich an niemand Bestimmten und alle fühlten sich angesprochen. Betretenes Schweigen herrschte.
Bis sie ein Waldgebiet überflogen. Keine tausend Meter mehr entfernt lag das Dorf. Tartus Marvin beobachtete die Tachyonenpeilung. »Wie heißt das Kaff noch gleich?«
»Corkaich«, sagte Braxton. »Ich lande in der Senke dort zwischen Strand und Weidefläche, einverstanden?«
Der Kommandant nickte grimmig. Zwei Minuten später setzte das Shuttle in der flachen Mulde auf. Sie hörten den Schnee unter den Landestützen knirschen.
»Gleich nach Mondaufgang kriegt die Station einen Bericht«, wandte sich Gonzales an Braxton. »Claudius muss wissen, was mit dem Shuttle los ist. Wir beide überprüfen jetzt jede Platine, jedes Programm.« Er wandte sich an die Frauen. »Und ihr beide steigt in eure Exoskelette und schaut euch im Dorf um. Vielleicht ist die Kleine zurückgekommen, kann ja sein.«
Stumm sahen Tita Athena Gonzales und Yiling Kyi Angelis einander an. Dann bestätigten sie den Befehl heiser, standen auf und verließen das Cockpit. Wohl war ihnen nicht in ihrer Haut.
Im Magazin vor dem Laderaum legten sie die Ganzkörperkorsette an und zogen lange Mäntel darüber. Fellmäntel, mit Leder gesäumt und mit Daunenfedern gefüttert. Die Regierung kaufte sie bei den Waldleuten auf dem Mars.
Yiling schnallte sich das tragbare Ortungsgerät auf den Rücken. Über Funk würde es sie mit der Tachyonenortung im Shuttle verbinden. Im Dorf, wo die Mutter des gesuchten Kindes die Teilchen großflächig verteilt hatte, würde ihnen das Gerät nichts nützen. Doch vielleicht hielt sich Ann Drax ja irgendwo zwischen Hügeln außerhalb des Dorfes auf.
Yiling reichte der Ärztin den Neuronenblocker, eine Waffe, mit der man organische Angreifer lähmen konnte. Sie selbst steckte den für solche Außeneinsätze vorgeschriebenen Laserstrahler in das Halfter am Mantelgurt. »Gehen wir.«
Sie verließen das Magazin, traten in die kleine Schleuse. Hier setzten sie die gläsernen Rundum-Helme auf. Die größte Gefahr der Erde waren die unsichtbaren Bakterien in der Luft, auf die der marsianische Metabolismus nicht eingestellt war. Die integrierten Filter der Helme beseitigten das Problem; ein Sauerstoffvorrat war nicht notwendig.
Aus der Cockpitluke bückte sich Tartus Marvin. »Hier.« Er reichte ihnen eine Kopie der Porträtzeichnung, die Ann Drax' Mutter einst angefertigt hatte. »Verlass mich auf euch.« Die Luke schloss sich. Sie stiegen aus.
Mit dem Shuttle verließen sie auch den Wirkungsbereich des Gravitationsausgleichers. Noch ohne einen Schritt getan zu haben, spürten sie sofort die höhere Schwerkraft. »Fühlt sich an, als hätte mir jemand Blei ins Mantelfutter gesteckt«, sagte Yiling. Die andere nickte nur.
Es war kalt. Die Mulde schien tagsüber kaum Sonnenlicht abzubekommen - eine nahezu geschlossene Schneedecke füllte sie aus. Sie lauschten in die Dunkelheit. Die Helmmikrofone übertrugen die Außengeräusche glasklar. Von der nahen Küste her rauschte die Brandung. Aus einem Wäldchen oberhalb der Senke pfiff ein Nachtvogel. Unter anderen Umständen hätte das schön geklungen. Jetzt aber verstärkte der Vogelgesang ihre Angst noch. Tita Athena blies die Backen auf. »Dann los«, flüsterte sie.
Die ersten Schritte auf dem Mutterplaneten ihrer Vorfahren hatten sie sich anders vorgestellt. Nicht so anstrengend, und feierlicher irgendwie.
Nur einen einzigen der vielen Versteinerten, von denen Matt Drax erzählt hatte, bekamen sie in dieser Nacht zu sehen. Er saß auf einer Schafweide vor einer Mauer und hielt sich an einem Hirtenstab fest. Schneereste lagen auf seiner Hutkrempe. Dass es eine Schafweide gewesen war, erkannten sie an den Teilen eines gefrorenen Kadavers. Yiling Kyi Angelis, die Biologin, hatte sich mit irdischer Fauna beschäftigt und das halb aufgefressene Tier gleich als Schaf identifiziert.
Auch sonst befand sich der Versteinerte in grausiger Gesellschaft: Etliche Knochen und ein toter Hund lagen zwischen den Schneefeldern der Weide.
Beklommenheit engte den beiden Frauen die Brust ein. Sie blickten hinüber zu den Hütten des Dorfes. Das nächste Gebäude jenseits der Mauer lag noch gut dreihundert Schritte entfernt. Die Angelis atmete tief durch. »Gehen wir weiter«,
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