Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Weinland
Vom Netzwerk:
dazu war er zu leise.
    Lobsang wandte sich in die andere Richtung. Doch dann gab er sich einen Ruck. Er war sicher, keine Ruhe finden zu können, solange die Sache nicht wirklich ins Reine gebracht war. Er war ein Marsianer, der seinen inneren Frieden nach dramatischen Vorfällen nur über ausgiebige verbale Auseinandersetzungen wiederherstellen konnte.
    Und das hier war ein mehr als dramatischer Vorfall.
    Im Durchgang zum Nachbarraum verließ seine Beine aber unversehens alle Kraft. Lobsang stützte sich gegen das Gewände. Mit dem, was sich seinem Blick bot, hatte er nicht im Entferntesten gerechnet.
    Zum ersten Mal sah Lobsang Graulichts »Mitbringsel« ohne den verhüllenden Umhang. Sie musste ihn gerade erst abgelegt haben, denn er lag vor den beiden am Boden. Sie selbst wälzte sich eng umschlungen mit seinem Freund auf der Couch.
    Graulicht hatte Lobsang noch nicht bemerkt. Die exotisch schöne Frau hingegen hatte das Gesicht ihm zugewandt - und sah ihn mit einem Ausdruck an, der beinahe auch noch die letzte Sicherung in seinem Schädel durchbrennen ließ. Ein schier unerträglicher Blick. Mehr als entlarvend, mehr als sezierend, und dazu von einer so tiefen Bosheit, dass Lobsang fast zu schreien begann.
    Daraus wurde dann aber nur ein Röcheln. Es genügte, um Graulichts Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.
    Arglos winkte er ihn näher. »Komm. Komm schon. Ich weiß, du bist sauer, aber lernt euch doch erst mal kennen. Wusstest du, dass sie Audrey heißt?«
    Lobsang spürte einen drängenden Brechreiz. In der Nähe des Umhangs lag ein kleines laminiertes Kärtchen, offenbar ein auf der Erde üblicher Ausweis zu der Zeit, der »Audrey« entstammte. Mühsam hielt sich Lobsang auf den Beinen. Dass sein Zustand Graulicht nicht auffiel, war kaum zu verstehen.
    Zu seiner eigenen Verwunderung trugen ihn seine Beine, als er sich kurz darauf abstieß und dem unerträglichen Paar entgegen wankte. Bevor er sich ihnen schräg gegenüber in einen Sessel fallen ließ, fischte er im Vorbeigehen noch die ID-Card vom Boden.
    Endlich sitzend, atmete er erst einmal tief durch und versuchte Audreys Blicke, die ihm zusetzten, ohne dass er hinschaute, zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf das amtliche Dokument, das sie offenbar bei sich getragen hatte und das genauso real geworden war wie sie selbst.
    Audrey Hefferman , las er lautlos. Geboren am 08.09.1987. Haarfarbe: blond. Größe: 187 cm. Augenfarbe: grün.
    Den Rest ersparte er sich. Das eingearbeitete Foto zeigte Audreys Konterfei. Ernst und ein wenig überfordert hatte das junge Mädchen - älter als siebzehn, achtzehn Erdenjahre war sie weder auf dem Bild, noch in natura - in die Kamera geblickt. Davon war nichts mehr geblieben. Ihre Blicke hatten jetzt etwas von einem sich zusammenbrauenden Unwetter. Sandsturm und Blizzard in einem.
    Lobsang fröstelte.
    »Kann sie nicht sprechen?«, fragte er, den Blick auf Graulichts Lippen geheftet, als wäre das die einzige Stelle, die er momentan auch an seinem Freund ertrug.
    »Sie wird es lernen. Alles ist neu für sie. Alles ist fremd. Aber sie ist klug und verständig. Sieh dir nur ihre Augen an! Das sind die Augen eines Genies! So begierig nach allem. Es muss furchtbar sein, wenn der Geist eines Neugeborenen im Körper eines Erwachsenen steckt.«
    Lobsang überging für den Moment die besorgniserregende Botschaft, die Graulichts Worte vermittelten. Nichts daran klang danach, dass der Freund vorhatte, Lobsangs Rat - nein, es war ein Ultimatum gewesen! - zu befolgen und die mitgebrachte Blaupause wieder dorthin zurückzuschaffen, wohin sie gehörte.
    »Das ist ihr Zustand?«, fragte er mit kratzender Stimme. »Der einer Neugeborenen? Geistig, meine ich.« Dass körperlich alles an ihr stimmte, war unübersehbar.
    »Nein, nein! Ich muss es selbst erst genauer erforschen. Der Unterschied ist ihre Klugheit. Ihre… Raffinesse.«
    Raffinesse? Lobsang wusste nicht genau, ob er richtig verstand, was Graulicht damit meinte.
    »Leg endlich deine Vorbehalte ab«, sagte der Freund. Erstaunlicherweise waren es weniger seine Worte als der Umstand, wie er sich zusammen mit Audrey präsentierte. Diese Vertrautheit und Vertraulichkeit, die eigentlich ein längeres Kennen voraussetzte, hier aber ad hoc regelrecht erzwungen wurde… Nein, das war nichts, womit sich Lobsang anfreunden konnte. Und Audrey selbst… sie war mehr als gewöhnungsbedürftig. Warum nur merkte Graulicht das nicht? War er blind?
    Blind vor Liebe?
    Liebe war und

Weitere Kostenlose Bücher