2666
neuen Schlagzeilen und die Journalisten springen darauf an und auch die Leute reden wieder darüber und die Geschichte wächst wie ein Schneeball, bis die Sonne herauskommt und der erbärmliche Schneeball schmilzt und die Leute die Sache vergessen und zurück an die Arbeit gehen.«
»Zurück an die Arbeit?«, fragte Fate.
»Die verdammten Morde sind wie ein Streik, Amigo, ein verdammter wilder Streik.«
Die Gleichsetzung von Frauenmorden und Streik kam ihm merkwürdig vor. Aber er nickte und sagte nichts.
»Das hier ist eine komplette, eine runde Stadt«, sagte Chucho Flores. Wir haben alles. Fabriken, Maquiladoras, eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit, eine der niedrigsten in ganz Mexiko, ein Kokainkartell, einen ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus anderen Städten, Immigranten aus Mittelamerika, eine Stadtplanung, die mit dem Bevölkerungswachstum nicht zu Rande kommt. Wir haben Geld und auch jede Menge Armut, wir haben Phantasie und Bürokratie, Gewalt und das Bedürfnis, in Ruhe zu arbeiten. Uns fehlt nur eins«, sagte Chucho Flores.
Erdöl, dachte Fate, sagte es aber nicht.
»Und was?«, fragte er.
»Zeit«, sagte Chucho Flores. »Uns fehlt die verdammte Zeit.«
Zeit wofür?, dachte Fate. Zeit, um diese Scheiße, diesen Mischmasch aus verwahrlostem Friedhof und Müllhalde in ein neues Detroit zu verwandeln? Eine Zeitlang sagte keiner etwas. Chucho Flores zog Bleistift und Notizbuch aus einer Sakkotasche und fing an, Frauengesichter zu zeichnen. Er zeichnete rasend schnell, ganz versunken und auch ziemlich gekonnt, wie Fate fand, als hätte Chucho Flores vor seiner Zeit als Sportreporter Malerei studiert und viele Stunden mit Porträtstudien verbracht. Keine der Frauen lächelte. Einige hatten die Augen geschlossen. Andere waren alt und sahen zur Seite, als warteten sie auf etwas oder als hätte gerade jemand ihren Namen gerufen. Schön war keine.
»Du hast Talent«, sagte Fate, als Chucho Flores sein siebtes Porträt in Angriff nahm.
»Spielerei«, sagte Chucho Flores.
In erster Linie, weil ihm ein vertiefendes Gespräch über das Talent des Mexikaners irgendwie unangenehm war, erkundigte sich Fate nach den toten Frauen.
»Bei den meisten handelt es sich um Arbeiterinnen aus den Maquiladoras. Viele junge Frauen mit langen Haaren. Was nicht unbedingt das Markenzeichen des Mörders sein muss, in Santa Teresa haben fast alle Mädchen lange Haare«, sagte Chucho Flores.
»Ist der Mörder immer derselbe?«, fragte Fate.
»Das wird behauptet«, sagte Chucho Flores, ohne sein Zeichnen zu unterbrechen. »Es gibt mehrere Festnahmen. Einige Fälle sind aufgeklärt. Dennoch hält sich die Legende, es gebe nur einen Mörder, und der sei nicht zu fassen.«
»Wie viele tote Frauen sind es?«
»Keine Ahnung«, sagte Chucho Flores, »viele, über zweihundert.« Fate sah zu, wie der Mexikaner sein neuntes Porträt begann.
»Ziemlich viele für einen Einzeltäter«, sagte er.
»Genau, Amigo, zu viele, selbst für einen mexikanischen Mörder.«
»Und wie werden sie ermordet?«, fragte Fate.
»Das ist völlig unklar. Sie verschwinden. Lösen sich in Luft auf, von einem Moment auf den anderen. Und nach einiger Zeit tauchen ihre Körper in der Wüste wieder auf.«
Auf dem Weg zum Sonora Resort, wo er seine Mails abfragen wollte, kam Fate der Gedanke, dass es viel interessanter wäre, statt über den Kampf von Count Pickett eine Reportage über die ermordeten Frauen zu schreiben. Das mailte er seinem Ressortleiter. Er bat darum, eine Woche länger in der Stadt bleiben zu dürfen und einen Fotografen zu bekommen. Anschließend ging er in die Bar und setzte sich zu einer Gruppe nordamerikanischer Journalisten. Man unterhielt sich über den Kampf, und alle waren sich einig, dass Fernandez keine fünf Runden überstehen werde. Einer erzählte die Anekdote von dem mexikanischen Boxer Hércules Carreño, einem fast zwei Meter großen Hünen. Nicht gerade üblich in Mexiko, wo die Leute eher klein sind. Außerdem war dieser Hércules Carreño bärenstark, er schleppte Säcke auf dem Markt oder im Schlachthof, und irgendjemand überredete ihn, es einmal mit Boxen zu versuchen. Er fing spät an. So mit fünfundzwanzig. Aber da Mexiko nicht gerade mit Schwergewichtlern gesegnet ist, gewann er alle seine Kämpfe. Dieses Land bringt gute Bantamgewichtler hervor, gute Fliegengewichtler, gute Federgewichtler, ab und zu auch einen Weltergewichtler, aber keine Schwergewichtler oder Halbschwergewichtler. Eine Frage von
Weitere Kostenlose Bücher