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jung bin.«
»Sie sind noch ziemlich jung«, sagte Fate.
»Trotzdem habe ich Angst. Und ich brauche Begleitung. Heute Morgen bin ich mit meinem Wagen in der Gegend um das Gefängnis von Santa Teresa herumgefahren und hätte fast einen hysterischen Anfall bekommen.«
»Ist es so schrecklich?«
»Es ist wie ein Traum«, sagte Guadalupe Roncal. »Als wäre das Gefängnis selbst lebendig.«
»Lebendig?«
»Wie soll ich es erklären? Lebendiger als ein Wohnhaus zum Beispiel. Viel lebendiger. Es ähnelt, wundern Sie sich nicht über meine Worte, einer zerstückelten Frau. Einer zerstückelten, aber noch lebenden Frau. Und im Innern dieser Frau wohnen die Gefangenen.«
»Verstehe«, sagte Fate.
»Nein, ich glaube nicht, dass Sie das verstehen können, aber egal. Sie interessieren sich für die Sache, und ich biete Ihnen die Möglichkeit, den Hauptverdächtigen der Morde kennenzulernen, sofern Sie mich im Gegenzug begleiten und mich beschützen. Ich finde, das ist ein fairer und gerechter Handel. Einverstanden?«
»Fair, ja«, sagte Fate. »Und sehr freundlich von Ihnen. Was ich noch nicht verstehe, ist, wovor Sie Angst haben. Im Gefängnis kann Ihnen niemand etwas antun. Theoretisch zumindest tun die Leute, die man eingesperrt hat, niemandem mehr etwas an. Nur gegenseitig tun sie sich etwas an.«
»Sie haben noch nie ein Foto von dem Hauptverdächtigen gesehen.«
»Nein«, sagte Fate.
Guadalupe sah zum Himmel und lächelte.
»Ich muss Ihnen vorkommen wie eine Verrückte. Oder eine Gewerbsmäßige. Aber ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin lediglich nervös und habe in letzter Zeit zu viel getrunken. Glauben Sie, ich will Sie in mein Bett zerren?«
»Nein. Ich glaube das, was Sie mir gesagt haben.«
»Unter den Papieren meines armen Vorgängers befanden sich mehrere Fotos. Einige von dem Verdächtigen. Drei, um genau zu sein. Alle drei im Gefängnis aufgenommen. Auf zweien sitzt der Gringo - Verzeihung, ich meine das nicht beleidigend - wahrscheinlich in einem Besucherraum und schaut direkt in die Kamera. Er hat sehr blondes Haar und sehr blaue Augen. So blau, dass es aussieht, als sei er blind. Auf dem dritten Bild steht er und schaut zur Seite. Er ist sehr groß und dünn, obwohl er durchaus nicht schwach wirkt. Sein Gesicht ist das eines Träumers. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Man hat nicht den Eindruck, als fühlte er sich unwohl, er sitzt im Gefängnis, scheint sich aber nicht unwohl zu fühlen. Heiter und gelassen wirkt er aber auch nicht. Ebenso wenig verärgert. Es ist das Gesicht eines Träumers, jedoch eines Träumers, der mit großer Geschwindigkeit träumt. Ein Träumer, dessen Träume unseren Träumen weit voraus sind. Und das macht mir Angst. Verstehen Sie?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, nein«, sagte Fate. »Aber ich werde Sie zu Ihrem Interview begleiten.«
»Einverstanden also«, sagte Guadalupe Roncal. »Ich warte auf Sie übermorgen um zehn in der Hotelhalle. Passt Ihnen das?«
»Zehn Uhr morgens. Ich werde da sein«, sagte Fate.
»Zehn Uhr vormittags. Okay«, sagte Guadalupe Roncal. Dann gab sie ihm die Hand und verließ die Terrasse. Ihr Gang, bemerkte Fate, war schwankend.
Den restlichen Tag verbrachte er in der Bar des Sonora Resort zusammen mit Campbell und diversen Getränken. Sie jammerten über das Sportreporterdasein, ein Loch, aus dem noch nie ein Pulitzer hervorging, ein Beruf, dem nur wenige Menschen einen höheren Wert beimaßen als den einer bloß zufälligen Zeugenschaft. Dann gaben sie sich Erinnerungen an ihre Studentenzeit hin, die Fate an der Universität von New York verbracht hatte, Campbell an der Universität von Sioux City in Iowa.
»Das Wichtigste damals waren für mich Baseball und Ethik«, sagte Campbell.
Einen Moment lang stellte Fate sich Campbell vor, wie er in einer düsteren Zimmerecke auf den Knien lag, die Bibel umklammert hielt und heulte. Dann aber sprach Campbell von Frauen, von einer Bar in Smithland, einer Art Landgasthof in der Nähe des Little Sioux River, zu der man erst bis Smithland und dann ein paar Kilometer weiter in östlicher Richtung fahren musste, und dort unter ein paar Bäumen waren die Bar und die Barmädchen, die gewöhnlich Bauern und einige Studenten bedienten, die mit dem Wagen aus Sioux City herüberkamen.
»Wir taten immer das Gleiche«, sagte Campbell, »erst vögelten wir mit den Mädchen, danach gingen wir in den Hof und spielten Baseball, bis wir nicht mehr konnten, und wenn es dann
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