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dunkel wurde, betranken wir uns und sangen auf der Veranda der Bar Country-Lieder.«
Fate dagegen hatte während seines Studiums an der New Yorker Universität weder die Angewohnheit besessen, sich zu betrinken, noch ging er zu Prostituierten (tatsächlich war er nie in seinem Leben mit einer Frau zusammen gewesen, die er hätte bezahlen müssen), sondern nutzte seine freie Zeit, um zu arbeiten und zu lesen. Einmal in der Woche, immer samstags, besuchte er eine Schreibwerkstatt, und für eine Weile, nur kurz, wenige Monate, hatte er sich eingebildet, er könne sich vielleicht dem literarischen Schreiben zuwenden, bis der Schriftsteller, der die Werkstatt leitete, ihm riet, sich lieber auf Journalismus zu konzentrieren.
Aber das sagte er Campbell nicht.
Bei Einbruch der Dunkelheit kam Chucho Flores und holte ihn ab. Fate fiel auf, dass Campbell von Chucho Flores nicht aufgefordert wurde mitzukommen, was ihm, er wusste nicht warum, gefiel und auch wieder nicht gefiel. Eine Weile lang kurvten sie ziellos durch Santa Teresa, zumindest kam Fate es so vor, als wollte Chucho Flores ihm etwas sagen, fände aber nicht den rechten Moment. Im Schein der nächtlichen Beleuchtung veränderten sich die Züge des Mexikaners. Die Gesichtsmuskeln traten hervor. Kein sehr schönes Profil, dachte Fate. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er irgendwann ins Sonora Resort würde zurückkehren müssen, da er seinen Wagen dort geparkt hatte.
»Lass uns nicht so weit fahren«, sagte er.
»Hast du Hunger?«, fragte der Mexikaner. Fate bejahte. Der Mexikaner lachte und machte Musik an. Fate hörte ein Akkordeon und einige ferne Schreie, keine Schmerzensschreie oder Freudenschreie, sondern Ausbrüche einer Energie, die sich selbst genügte und sich selbst verzehrte. Chucho Flores lächelte, und das Lächeln blieb ihm im Gesicht stehen, ohne dass er die Fahrt unterbrach und zu ihm rüberschaute, den Blick nach vorn gerichtet, als trüge er eine orthopädische Halskrause, während das Geheul sich den Mikrophonen näherte und mehrere Typen, die sich Fate mit Verbrechervisagen vorstellte, zu singen begannen oder etwas verhaltener als zu Beginn weiterschrien und Hochrufe ausbrachten, auf wen, war unklar.
»Was ist das?«, fragte Fate.
»Jazz aus Sonora«, sagte Chucho Flores.
Es war vier Uhr morgens, als er zum Motel zurückkehrte. In dieser Nacht hatte er sich betrunken, dann war der Rausch verflogen, dann hatte er sich wieder betrunken, und jetzt, vor seinem Zimmer, war der Rausch erneut verflogen, als wäre das, was die Mexikaner tranken, kein Alkohol, sondern Wasser mit vorübergehender hypnotischer Wirkung. Eine Zeitlang saß er auf dem Kofferraum seines Wagens und sah den vorbeirauschenden Lastwagen hinterher. Die Nacht war kühl und sternenklar. Er dachte an seine Mutter und an das, was sie in den Nächten in Harlem gedacht haben musste, ohne aus dem Fenster zu gucken und die wenigen Sterne zu sehen, die dort leuchteten, im Sofa vor dem Fernseher oder beim Geschirrspülen in der Küche, während aus dem Apparat Gelächter drang, Gelächter von Schwarzen und Weißen, die einander Witze erzählten, über die sie sich vielleicht amüsierte, obwohl es wahrscheinlicher schien, dass sie ihrem Gerede kaum Beachtung schenkte, beschäftigt wie sie war mit dem Spülen des Geschirrs, das sie eben benutzt hatte, der Pfanne, die sie eben benutzt hatte, der Gabel, die sie eben benutzt hatte, mit einer Ruhe, die wahrscheinlich, dachte Fate, mehr zu bedeuten hatte als bloße Ruhe, oder auch nicht, vielleicht bedeutete diese Ruhe bloß Ruhe und eine leichte Erschöpfung, Ruhe und erloschenes Feuer, Ruhe und Frieden und Schlaf, der ja schließlich, der Schlaf, die Quelle und letzte Zuflucht der Ruhe ist. Dann aber ist Ruhe nicht nur Ruhe, dachte Fate. Oder unser Verständnis von Ruhe ist falsch, und die Ruhe oder die Ruhezonen sind in Wirklichkeit nichts anderes als ein Bewegungsmesser, ein Beschleuniger oder Entschleuniger, je nachdem.
Am nächsten Tag wachte er um zwei Uhr nachmittags auf. Das Erste, woran er sich erinnerte, war die gestrige Übelkeit vorm Einschlafen und dass er sich hatte übergeben müssen. Er schaute rechts und links neben das Bett, konnte aber keine Spuren davon finden. Und dennoch, in der Nacht war er zweimal aufgewacht, und beide Male hatte es nach Erbrochenem gerochen: Ein fauliger Geruch, der aus allen Ecken des Zimmers drang. Er war zu müde gewesen, um aufzustehen und die Fenster zu öffnen, und schlief stattdessen
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