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entnahm, den Inhalt auf den mit ländlichen oder eher bukolischen Motiven verzierten Deckel des Etuis leerte, dann seelenruhig unter Zuhilfenahme einer seiner Kreditkarten drei Linien zog und sie nacheinander durch eine gerollte Visitenkarte, auf der Chucho Flores stand, Journalist und Rundfunkmoderator, außerdem die Adresse des Senders, seiner Nase zuführte.
An einem dieser Abende und ohne dass es einer besonderen Aufforderung bedurfte (Chucho Flores hatte sie nie, bei keiner Gelegenheit aufgefordert, das Koks mit ihm zu teilen) bat ihn Rosa, während sie sich einen Rest Sperma von den Lippen wischte, die letzte Linie ihr zu überlassen. Chucho Flores fragte, ob sie sicher sei, und reichte ihr dann mit gleichgültiger, aber doch respektvoller Miene das Zigarettenetui und eine neue Visitenkarte. Rosa zog sich das ganze restliche Kokain in die Nase, lehnte sich in ihrem Sitz nach hinten und betrachtete die schwarzen Wolken, die sich in nichts vom schwarzen Himmel unterschieden.
Als sie in dieser Nacht nach Hause kam, trat sie in den Hof hinaus und sah ihren Vater, der mit dem Buch sprach, das dort seit längerem auf der Wäscheleine hing. Ohne von ihrem Vater bemerkt zu werden, verschwand sie in ihrem Zimmer, las ein wenig in einem Roman und dachte über ihre Beziehung zu dem Mexikaner nach.
Selbstverständlich hatten sich der Mexikaner und ihr Vater kennengelernt. Die Meinung, die Chucho Flores sich bei dem Treffen über ihn bildete, war positiv, obwohl Rosa das für gelogen hielt, es erschien ihr nicht normal, dass ihm jemand gefiel, der ihn so angeschaut hatte, wie ihr Vater das getan hatte. Amalfitano stellte Chucho Flores an jenem Abend drei Fragen. Die erste lautete, was er über Hexagone dächte. Die zweite, ob er ein Hexagon anfertigen könne. Die dritte, was er von den Frauenmorden halte, die in Santa Teresa begangen würden. Auf die erste Frage antwortete Chucho Flores: Nichts. Auf die zweite antwortete er mit einem klaren Nein. Zur dritten sagte er, die Morde seien sehr bedauerlich, aber die Polizei werde die Täter nach und nach fassen. Rosas Vater stellte keine weiteren Fragen und blieb regungslos in seinem Sessel sitzen, während seine Tochter sich draußen auf der Straße von Chucho Flores verabschiedete. Als Rosa wieder ins Haus kam und das Motorengeräusch vom Auto ihres Freundes noch nicht verklungen war, sagte Óscar Amalfitano zu seiner Tochter, sie solle sich vor diesem Mann in Acht nehmen, er sei ihm suspekt, ohne eine Begründung zu geben, die seine Worte hätte untermauern können.
»Wenn ich richtig verstanden habe«, rief Rosa lachend aus der Küche, »sollte ich besser mit ihm Schluss machen.«
»Solltest du«, sagte Óscar Amalfitano.
»Ach, Papa, du wirst auch immer verrückter«, sagte Rosa.
»Das ist wahr«, sagte Óscar Amalfitano.
»Und was sollen wir tun? Was können wir tun?«
»Du mach Schluss mit diesem ignoranten, verlogenen Scheißkerl. Was mich betrifft, keine Ahnung, ich werde vielleicht, wenn wir nach Europa zurückkehren, eine Klinik aufsuchen und mir ein paar Elektroschocks verpassen lassen.«
Zu einer zweiten Begegnung zwischen Chucho Flores und Óscar Amalfitano kam es, als Rosa einmal von ihrem Freund zusammen mit Charly Cruz und Rosa Méndez nach Hause gebracht wurde. Eigentlich hätte Óscar Amalfitano gar nicht da sein dürfen, sondern an der Universität Seminare geben müssen, aber an diesem Nachmittag hatte er eine Krankheit vorgeschützt und war früher als üblich nach Hause gekommen. Obwohl ihr Vater sich letztlich ungewohnt friedfertig zeigte, währte die Begegnung nur kurz, da Rosa dafür sorgte, dass ihre Freunde bei erster sich bietender Gelegenheit wieder gingen, doch vorher kam es noch zu einem Gespräch zwischen ihrem Vater und Charly Cruz, das vielleicht nicht gerade unterhaltsam verlief, aber auch nicht langweilig, im Gegenteil, mit der Zeit bekam das Gespräch zwischen ihrem Vater und Charly Cruz in Rosas Erinnerung immer klarere Konturen, als würde die Zeit, in klassischer Verkörperung durch einen Greis, unermüdlich den Staub von einem glatten, grau marmorierten Stein blasen, bis die ihm eingravierten Buchstaben deutlich hervortraten.
Alles begann, vermutete Rosa, die sich in diesem Moment nicht im Wohnzimmer, sondern in der Küche befand, wo sie vier Gläser mit Mangosaft füllte, mit einer jener vergifteten Fragen, mit denen ihr Vater Gäste - ihre Gäste, bestimmt nicht seine - zu konfrontieren pflegte, vielleicht begann aber auch
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