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das Geschäft des Blonden nicht schlecht lief. Er hatte Stammkunden und leistete sich den Luxus, an seinem Schreibtisch sitzen zu bleiben und in aller Ruhe zu plaudern. Daraufhin dachte Epifanio an Rosa María Medina und ihre Glaubwürdigkeit. Ihre Glaubwürdigkeit ist mir schnurz, sagte er im Stillen. Eine halbe Stunde später war der Laden leer. Beim Gehen hatte ihn die Frau angeschaut, als würde auch sie ihn wiedererkennen. Das Lachen von Haas und seinem Freund war verstummt. Der Blonde empfing ihn hinter seinem hufeisenförmigen Verkaufstisch. Epifanio zog das Foto von Estrella Ruiz Sandoval aus seiner Sakkotasche und schob es ihm hin. Der Blonde sah es an, ohne es zu berühren, und machte dann eine merkwürdige Lippenbewegung, schürzte die Unterlippe und schob sie über die Oberlippe, wobei er ihn ansah, als würde er fragen, was es damit auf sich habe. Kennen Sie das Mädchen? Ich glaube nicht, sagte Haas, aber hier gehen viele Leute rein und raus. Darf ich mich vorstellen: Epifanio Galindo von der örtlichen Polizei. Haas reichte ihm die Hand, und als Epifanio sie schüttelte, kam es ihm so vor, als seien die Knochen des Blonden aus Eisen. Er hätte ihm gern gesagt, er solle ihm nichts vormachen, er habe Zeugen, aber stattdessen zog er es vor, zu lächeln. Hinter Haas saß an einem anderen Schreibtisch der Junge und tat, als blättere er in einigen Papieren, in Wirklichkeit aber ließ er sich kein Wort entgehen.
Nachdem er die Ladentür abgeschlossen hatte, schwang sich der Junge auf ein japanisches Motorrad und drehte ein paar langsame Runden durch die Innenstadt, als erwartete er, jemanden zu treffen, bis er in der Calle Universidad schließlich Gas gab und den Weg in die Siedlung Veracruz einschlug. Er hielt vor einem einstöckigen Haus und schloss das Motorrad mit einer Kette ab. Seine Mutter wartete seit zehn Minuten mit dem fertigen Essen auf ihn. Der Junge gab ihr einen Kuss und schaltete den Fernseher ein. Die Mutter ging in die Küche. Sie zog sich die Schürze aus und griff nach einer Kunstledertasche. Sie gab dem Jungen einen Kuss und ging. Ich bin gleich zurück, sagte sie. Der Junge wollte sie schon fragen, wohin sie gehe, sagte dann aber nichts. Aus einem der Zimmer drang das Weinen eines Kindes. Anfangs achtete der Junge nicht darauf und sah weiter fern, aber als das Weinen lauter wurde, ging er in das Zimmer und kam mit einem wenige Monate alten Baby auf dem Arm wieder heraus. Das Baby war weiß und mollig, das genaue Gegenteil seines Bruders. Der Junge setzte es auf seinen Schoß und aß weiter. Im Fernsehen lief eine Nachrichtensendung. Er sah eine Gruppe von Schwarzen, die durch die Straßen einer Stadt in den USA liefen, einen Mann, der vom Mars sprach, eine Gruppe Frauen, die aus dem Meer stiegen und in die Kamera lachten. Er wechselte mit der Fernbedienung den Kanal. Kampf zweier junger Boxer. Er schaltete wieder um, Boxen mochte er nicht. Die Mutter kam wohl so bald nicht wieder, aber das Baby weinte nicht mehr, und den Jungen machte es nichts aus, es auf dem Schoß zu haben. Es klingelte an der Tür. Der Junge hatte noch Zeit, umzuschalten - eine Telenovela -, dann stand er mit dem Baby im Arm auf und öffnete die Tür. Hier wohnst du also, sagte Epifanio. Ja, sagte der Junge. Hinter Epifanio kam ein Polizist herein, der nicht groß, aber immerhin größer als der Junge war, und sich ohne zu fragen in einen Sessel setzte. Bist du beim Essen?, fragte Epifanio. Ja, sagte der Junge. Iss weiter, iss weiter, sagte Epifanio, während er in die anderen Zimmer ging und sofort wieder herauskam, als genügte ihm ein Blick, um sämtliche Winkel der Wohnung zu erfassen. Wie heißt du?, fragte Epifanio. Juan Pablo Castañón, sagte der Junge. Gut, Juan Pablo, jetzt setz dich wieder hin und iss weiter, sagte Epifanio. Ja, Señor, sagte der Junge. Und keine Aufregung, sonst fallt dir das Kleine runter, sagte Epifanio. Der andere Polizist lächelte.
Eine Stunde später fuhren sie wieder, und Epifanio sah jetzt sehr viel klarer als vorher. Klaus Haas war Deutscher, aber im Besitz der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Er hatte zwei Geschäfte in Santa Teresa, wo es vom Walkman bis zum Computer alles zu kaufen gab, außerdem ein ähnliches Geschäft in Tijuana, in dem er einmal im Monat vorbeischauen musste, um die Bücher zu prüfen, Angestellte zu bezahlen und Warenbestände aufzufüllen. Außerdem fuhr er alle zwei Monate in die Vereinigten Staaten, obwohl das weder ganz regelmäßig noch zu
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