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beteuerte Haas seine Unschuld, sagte, dass ihm im Laufe des Verhörs »seltsame Substanzen« verabreicht worden seien, um seinen Willen zu brechen. Er erinnere sich nicht, etwas unterschrieben zu haben, kein Schuldgeständnis, aber wenn er es doch getan habe, ließ er wissen, so sei dies durch eine viertägige physische, psychische und »medizinische« Folter erwirkt worden. Er wies die Journalisten darauf hin, dass in Santa Teresa »Dinge« geschähen, die bewiesen, dass er nicht der Frauenmörder sei. Im Gefängnis, deutete er an, bekomme man viele Informationen. Einer der aus DF angereisten Journalisten war Sergio González. Anders als beim letzten Mal war der Grund für seine Anwesenheit nicht, dass er Geld brauchte und deswegen einen Sonderauftrag übernahm. Als er erfuhr, dass man Haas verhaftet hatte, sprach er mit dem Chef des Kriminalressorts und bat ihn, er möge ihm den Gefallen tun und den Fall ihm überlassen. Der Ressortchef hatte nichts dagegen, und als er erfuhr, dass Haas vor die Presse treten wollte, rief er Sergio in der Kultur an und sagte, wenn er wolle, solle er hinfahren. Die Angelegenheit ist abgeschlossen, sagte er zu ihm, ich verstehe nicht ganz dein Interesse an ihm. Auch Sergio González verstand es nicht genau. Aus Sensationslust? Oder aus der Gewissheit heraus, dass in Mexiko Dinge nie ganz abgeschlossen sind? Als die improvisierte Pressekonferenz vorüber war, gab Haas' Anwältin allen Journalisten zum Abschied die Hand. Als die Reihe an Sergio kam, merkte er, dass sie ihm dabei, von allen anderen unbemerkt, einen Zettel zusteckte. Er schob die Hand in die Tasche und verwahrte den Zettel dort. Als er nach Verlassen des Gefängnisses auf ein Taxi wartete, sah er ihn sich genauer an. Der Zettel enthielt nur eine Telefonnummer.
Haas' Pressekonferenz war ein kleiner Skandal. In einigen Medien wurde gefragt, seit wann ein Strafgefangener die Presse einladen und ihr im Gefängnis Rede und Antwort stehen durfte, als wäre er bei sich zu Hause und nicht dort, wohin Staat und Justiz ihn geschickt hatten, damit er für seine Verbrechen bezahlte oder, woran die Akten des Falles unmissverständlich erinnerten, um eine Strafe zu verbüßen. Es hieß, der Gefängnisdirektor habe von Haas Geld bekommen. Es hieß, Haas sei der Erbe, der einzige Erbe, einer schwerreichen europäischen Familie. Dieser Nachricht zufolge schwamm Haas in Geld, und das gesamte Gefängnis von Santa Teresa tanzte nach seiner Pfeife.
Am Abend nach der Pressekonferenz rief Sergio González bei der Nummer an, die die Anwältin ihm zugesteckt hatte. Am anderen Ende meldete sich Haas. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hallo?, sagte Haas. Sie haben ein Telefon?, sagte Sergio González. Wer spricht denn da?, fragte Haas. Einer der Journalisten, die heute bei Ihnen waren. Aus DF, sagte Haas. Ja, sagte Sergio González. Wen wollten Sie denn sprechen?, fragte Haas. Ihre Anwältin, gestand Sergio. So, so, sagte Haas. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Soll ich Ihnen etwas erzählen?, sagte Haas. In den ersten Tagen hier im Gefängnis hatte ich Angst. Ich dachte, wenn die anderen Gefangenen mich sehen, wollen sie sich an mir für den Tod all dieser ermordeten Mädchen rächen. Hier im Gefängnis zu sitzen war für mich das Gleiche, wie an einem Samstagmittag allein in einem dieser Viertel wie Kino, San Damián, Las Flores herumzulaufen. Lynchjustiz. Ein Mob, der dir das Fell über die Ohren zieht. Verstehen Sie mich? Erst spucken sie dich an, dann treten sie dich und schließlich ziehen sie dir das Fell über die Ohren. Ohne dass du etwas sagen kannst. Aber bald merkte ich, dass niemand im Gefängnis mir das Fell über die Ohren ziehen würde. Wenigstens nicht für das, wessen man mich beschuldigt. Was soll das heißen?, fragte ich mich. Ließen die Morde diese Typen kalt? Nein. Alle hier, einige mehr, andere weniger, interessieren sich brennend für das, was draußen passiert, für das Pulsieren der Großstadt, sozusagen. Was war also los? Ich fragte einen Mithäftling. Ich fragte ihn, was er von den toten Frauen, den toten Mädchen halte. Er sah mich an und sagte, das seien alles Nutten. Dann haben sie also den Tod verdient? Nein, sagte der Häftling. Sie haben es verdient, nach allen Regeln der Kunst durchgefickt zu werden, aber nicht, umgebracht zu werden. Auf meine Frage, ob er glaube, dass ich der Mörder sei, antwortete der Idiot nein, nein, du bestimmt nicht, Gringo, als wäre ich ein verdammter Gringo, was ich im Grunde
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