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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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was wirklich gut sei. Aber kommen wir zur Sache, sagte sie, ohne die riesige schwarze Sonnenbrille abzunehmen. Haben Sie jemals von Kelly Rivera Parker gehört? Nein, sagte Sergio. Das habe ich befürchtet, sagte die Abgeordnete. Von mir aber haben Sie gehört? Natürlich, sagte Sergio. Aber nicht von Kelly? Nein, sagte Sergio. So ist dieses verdammte Land, sagte Azucena, dann schwieg sie minutenlang und betrachtete ihr Tequilaglas im durchscheinenden Licht einer Tischlampe oder schaute zu Boden oder hatte die Augen geschlossen, denn all das und noch mehr konnte sie im Schutz ihrer Brille tun. Ich kannte Kelly von klein auf, sagte die Abgeordnete, als spräche sie im Schlaf. Anfangs mochte ich sie nicht, ich glaube, sie war mir zu wehleidig, zumindest glaubte ich das damals. Ihr Vater war Architekt und arbeitete für die Neureichen der Stadt. Ihre Mutter war eine Gringa, ihr Vater hatte sie während seines Studiums in Harvard oder Yale, eins von beiden, kennengelernt. Selbstverständlich ging er, der Vater, meine ich, nicht dorthin, weil seine Eltern, Kellys Großeltern, das wollten, sondern weil er ein Stipendium der Regierung bekommen hatte. Als Student war er vermutlich ziemlich gut, wie? Bestimmt, sagte Sergio, der merkte, dass die Schweigsamkeit sich ihrer wieder bemächtigte. Als Architekturstudent war er gut, ja, aber später als Architekt unter aller Sau. Kennen Sie das Haus Elizondo? Nein, sagte Sergio. Es steht in Coyoacán, sagte die Abgeordnete. Ein grauenvolles Haus. Kellys Vater hat es gebaut. Ich kenne es nicht, sagte Sergio. Derzeit wohnt dort ein Filmproduzent, ein unverbesserlicher Säufer, der total am Ende ist und keine Filme mehr macht. Sergio zuckte die Schultern. Eines nicht sehr fernen Tages wird er tot umfallen, und seine Neffen und Nichten werden das Haus Elizondo an eine Baufirma verkaufen, die an der Stelle ein Appartementhaus hochzieht. Tatsächlich werden die Spuren, die der Architekt Rivera in der Welt hinterlassen hat, mit jedem Tag spärlicher. Was für eine aidsverseuchte läufige Hure ist doch die Wirklichkeit, finden Sie nicht? Sergio nickte zustimmend und sagte, ja, so ist es. Der Architekt Rivera, der Architekt Rivera, sagte die Abgeordnete. Und nach einem Moment des Schweigens: Die Mutter war eine sehr attraktive Frau, eine Schönheit, das ist das richtige Wort, Frau Parker war eine Schönheit. Eine moderne und schöne Frau, die der Architekt Rivera, nebenbei gesagt, auf Händen trug. Und er tat gut daran, denn die Männer, die sie sahen, wurden verrückt nach ihr, und wenn sie ihn hätte verlassen wollen, wäre an guten Partien kein Mangel gewesen. Jedenfalls hat sie ihn nie verlassen, obwohl, als ich klein war, manchmal darüber geredet wurde, dass ein General und ein Politiker ihr den Hof gemacht hätten und sie ihre Avancen nicht ungnädig aufgenommen habe. Sie wissen ja, wie argwöhnische Menschen sind. Aber sie muss Rivera geliebt haben, denn sie hat ihn nie verlassen. Sie hatten nur ein Kind, Kelly, die eigentlich Luz María hieß wie ihre Großmutter. Natürlich wurde Frau Parker öfter schwanger, aber es gab Komplikationen. Ich vermute, dass etwas mit der Gebärmutter nicht stimmte. Vielleicht ertrug ihre Gebärmutter nicht noch mehr mexikanische Kinder und trieb sie auf natürliche Weise ab. Möglich. Man hat schon von verrückteren Dingen gehört. Jedenfalls war Kelly ein Einzelkind, und dieses Glück oder Unglück prägte ihren Charakter. Einerseits war sie eine Zimperliese oder machte diesen Eindruck, das typische blondgelockte Aufsteigertöchterchen, andererseits besaß sie von klein auf eine sehr starke, entschiedene Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, die ich mich ursprünglich zu nennen getraue. Jedenfalls mochte ich sie anfangs nicht, aber später, als ich sie näher kennenlernte, als sie mich zu sich und ich sie zu mir einlud, fühlte ich mich mehr und mehr zu ihr hingezogen, bis wir endlich unzertrennlich wurden. So etwas prägt fürs Leben, sagte die Abgeordnete, als spuckte sie einem Mann oder einem Phantom ins Gesicht. Kann ich mir vorstellen, sagte Sergio. Möchten Sie noch einen Kaffee?
    Am Tag seiner Ankunft in Santa Teresa verließ Kessler das Hotel. Erst ging er hinunter in die Lobby. Er sprach kurz mit dem Rezeptionisten, fragte nach dem Computer im Hotel und der Internetverbindung, und ging dann in die Bar, wo er ein Glas Whisky trank, das er zur Hälfte stehenließ, nachdem er aufgestanden und aufs Klo gegangen war. Als er wieder herauskam,

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