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Valley, in die Redaktion von La Raza, und sprach mit dem Chef der Zeitung, der ebenfalls aussah wie ein Landarbeiter, und mit dem Autor der Meldung über das Verschwinden von Hernández Mercado, einem Jungen, der aussah wie achtzehn, vielleicht auch erst siebzehn, und die journalistische Arbeit sehr ernst nahm. Dann fuhr sie zusammen mit dem Jungen nach Sonoita, wo sie sich im Haus von Hernández Mercado umschaute, das der Junge mit einem Schlüssel aufschloss, der angeblich in der Redaktion von La Raza aufbewahrt wurde, Mary-Sue jedoch eher vorkam wie ein Dietrich. Dann schauten sie im Büro des Sheriffs vorbei, der sagte, Hernández Mercado sei wahrscheinlich jetzt in Kalifornien. Mary-Sue wollte wissen, wieso er das glaube. Der Sheriff sagte, der Journalist sei hoch verschuldet gewesen (zum Beispiel war er mit der Miete sechs Monate im Rückstand, und der Besitzer wollte ihn schon rausschmeißen), und was er in der Zeitung verdient habe, reiche kaum zum Sattwerden. Der Junge bestätigte ungewollt die Worte des Sheriffs: Bei La Raza bezahlten sie wenig, denn es sei eine echte Volkszeitung, sagte er. Der Sheriff lachte. Mary-Sue wollte wissen, ob Hernández ein Auto habe. Der Sheriff sagte nein, wenn Hernández aus Sonoita fortmüsse, nehme er den Bus. Der Sheriff war ein hilfsbereiter Mensch und begleitete sie zum Busbahnhof, wo sie sich nach Hernández erkundigten, aber die Information, die sie bekamen, war wirr und nicht zu gebrauchen. Nach Aussage des alten Kartenverkäufers, des Busfahrers und der wenigen Menschen, die täglich den Bus benutzten, konnte Hernández am Tag seines Verschwindens genauso gut mitgefahren oder nicht mitgefahren sein. Bevor sie Sonoita wieder verließ, wollte sich Mary-Sue noch einmal die Wohnung des Journalisten anschauen. Alles lag an seinem Platz, keine Spuren von Gewalt, auf den wenigen Möbeln sammelte sich der Staub. Mary-Sue fragte den Sheriff, ob er Hernández' Computer eingeschaltet habe. Der Sheriff verneinte. Mary-Sue startete ihn und durchsuchte mehr nach Zufallsprinzip die Dateiordner des Schriftstellers und Reporters von La Raza de Green Valley. Sie fand nichts Interessantes. Den Anfang eines auf Spanglisch verfassten Romans, offenbar eines Kriminalromans. Veröffentlichte Artikel. Schilderungen des Lebens der Landarbeiter und Tagelöhner auf den Ranchs im Süden von Arizona. Die Artikel über Haas, fast alle reißerisch. Sonst fast nichts.
Am zehnten Dezember benachrichtigten Angestellte der Ranch La Perdición die Polizei vom Fund eines Skeletts an ihrer Gebietsgrenze, bei Kilometer fünfundzwanzig der Hauptstraße nach Casas Negras. Die Männer hatten zunächst angenommen, ein Tiergerippe vor sich zu haben, aber beim Anblick des Schädels erkannten sie ihren Irrtum. Dem gerichtsmedizinischen Befund zufolge handelte es sich um eine Frau, die Todesursache ließ sich nach so langer Zeit nicht mehr feststellen. Rund drei Meter von der Leiche entfernt fand man ein Paar Leggins und Sportschuhe.
Insgesamt blieb ich zwei Nächte in Santa Teresa, wohnte im Hotel México, und obwohl jedermann sich erbot, mir selbst den kleinsten Wunsch zu erfüllen, kamen wir in Wirklichkeit nicht weiter. Dieser Ortiz Rebolledo wirkte auf mich wie ein Kopra-Bauer. Der Bürgermeister, José Refugio de las Heras, wie einer vom anderen Ufer. Der Oberstaatsanwalt wirkte steinalt, fast wie Urgestein. Alle verwickelten sich in Lügen und Widersprüche. Als Erstes versicherten sie mir, niemand habe das Verschwinden von Kelly gemeldet, dabei wusste ich aus sicherer Quelle, dass ihre Mitarbeiterin das getan hatte. Der Name Salazar Crespo kam nicht ein einziges Mal zur Sprache. Niemand erzählte mir vom Verschwinden der Frauen in Santa Teresa, was längst allgemein bekannt war, schon gar nicht brachte man Kelly mit den beklagenswerten Ereignissen in Verbindung. Am Abend vor meiner Abreise rief ich bei den drei örtlichen Zeitungen an und teilte mit, dass ich in meinem Hotel eine Pressekonferenz geben würde. Dort schilderte ich Kellys Fall, was später in der überregionalen Presse nachgedruckt wurde, und sagte, als Politikerin und Feministin wie überhaupt als Freundin würde ich nicht eher ruhen, als bis ich die Wahrheit herausgefunden hätte. Im Stillen dachte ich: Ihr wisst nicht, mit wem ihr euch angelegt habt, feige Bande, sonst würdet ihr euch in die Hose machen. Am Abend nach der Pressekonferenz zog ich mich in meinem Hotelzimmer zurück und telefonierte herum. Ich sprach mit Abgeordneten des
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