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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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unzeitigen Anruf und wollte schon auflegen. Warte, sagte ich, irgendetwas ist doch mit dir, mir kannst du nichts vormachen. Wieder lachte sie. Nein, mit mir ist nichts, sagte sie. Entschuldige, mit den Jahren wird man immer hysterischer, gute Nacht. Warte, leg nicht auf, leg nicht auf, sagte ich. Etwas ist mit dir, lüg mich nicht an. Das habe ich nie getan, sagte sie. Sie schwieg, dann sagte sie, nur als wir klein waren. So? Als ich klein war, habe ich alle angelogen, natürlich nicht immer, aber ich habe gelogen. Das tue ich jetzt nicht mehr.
    Eine Woche später, während sie zerstreut in La Raza de Green Valley blätterte, las Mary-Sue Bravo die Nachricht, dass der Reporter, der über Haas' berühmte und im Nachhinein enttäuschende Erklärung geschrieben hatte, verschwunden war. So schrieb es seine eigene Zeitung, die einzige übrigens, die diese Meldung brachte, eine schwammige Lokalmeldung, so lokal, dass sich außer der Redaktionsleitung von La Raza anscheinend niemand für sie interessierte. Es hieß, Josué Hernández Mercado, so sein Name, sei vor fünf Tagen verschwunden. Ihm oblag die Berichterstattung über die Frauenmorde in Santa Teresa. Er war zweiunddreißig Jahre alt. Er wohnte allein, in einem bescheidenen Häuschen in Sonoita. Geboren war er in Ciudad de México, aber seit seinem fünfzehnten Lebensjahr lebte er in den Vereinigten Staaten und besaß die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er hatte zwei Bände mit Gedichten, beide auf Spanisch, in einem kleinen Verlag in Hermosillo veröffentlicht, auf eigene Kosten vermutlich, außerdem zwei Theaterstücke in Chicano oder Spanglisch, die in La Windowa erschienen waren, einer texanischen Zeitschrift, in deren stürmischer Mitte eine unberechenbare Gruppe von Schriftstellern Unterschlupf fand, die sich dieses Neo-Idioms befleißigte. Als Journalist bei La Raza hatte er eine lange Reihe von Reportagen über die Landarbeiter in der Region veröffentlicht, eine Arbeit, die er durch seine Eltern und aus eigener Erfahrung kannte. Sein beruflicher Werdegang sei autodidaktisch und heldenhaft gewesen, schloss die Nachricht, die sich, dachte Mary-Sue, weniger wie eine Nachricht als wie ein Nachruf las.
    Am dritten Dezember entdeckt man auf einer Brachfläche in der Siedlung Maytorena, unweit der Straße nach Pueblo Azul, die Leiche einer weiteren Frau. Die Tote ist bekleidet und zeigt keine Spuren äußerer Gewalt. Später wird sie als Juana Marín Lozada identifiziert. Der Obduktionsbericht gibt als Todesursache Zervikalwirbelfraktur an. Man könnte auch sagen: Ihr wurde das Genick gebrochen. Den Fall übernimmt Kommissar Luis Villaseñor, der in einer ersten Amtshandlung den Ehemann zum Verhör bittet und dann als mutmaßlichen Täter verhaftet. Juana Marín wohnte in der Siedlung Centeno, einem Mittelschichtsviertel, und arbeitete in einem Computerfachgeschäft. Villaseñors Bericht zufolge wurde sie in einer Wohnung ermordet, die auch ihre eigene gewesen sein könnte, und anschließend auf die Brachfläche an der Siedlung Maytorena geworfen. Ungewiss ist, ob sie vergewaltigt wurde, obschon ein Abstrich ergab, dass sie in den letzten vierundzwanzig Stunden Verkehr gehabt hatte. In seinem Bericht äußerte Villaseñor die Vermutung, Juana Marín habe mit dem Lehrer einer Computerschule in der Nähe ihrer Firma ein außereheliches Verhältnis unterhalten. Einer anderen Version zufolge war ihr Liebhaber jemand, der beim Fernsehsender der Universität von Santa Teresa arbeitete. Der Ehemann wurde zwei Wochen lang festgehalten und dann wegen Mangels an Beweisen auf freien Fuß gesetzt. Der Fall blieb unaufgeklärt.
    Drei Monate später verschwand Kelly in Santa Teresa, Sonora. Seit dem Telefongespräch hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ihre Mitarbeiterin rief mich an, eine hässliche junge Frau, die Kelly anbetete und der es mit viel Mühe gelang, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Sie sagte, Kelly hätte vor zwei Wochen aus Santa Teresa zurückkommen müssen, was nicht geschehen sei. Ich fragte, ob sie versucht habe, sich telefonisch mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie sagte, ihr Handy sei tot. Sie rufe sie immer und immer wieder an, aber niemand nehme ab, sagte sie. Ich traute Kelly zu, sich in ein Liebesabenteuer zu stürzen und für ein paar Tage zu verschwinden, und tatsächlich hatte sie das schon einmal gemacht, aber ich traute ihr nicht zu, dass sie ihre Mitarbeiterin nicht anrief, und sei es nur, um ihr mitzuteilen, wie sie in ihrer Abwesenheit

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