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nach, ob es zweckmäßig sei, in Berlin anzurufen oder nicht. Auf der Straße erschien auf einmal eine jüdische Kehrbrigade. Die betrunkenen Kinder hörten auf, Fußball zu spielen, traten auf den Gehweg zurück und starrten sie an, als wenn es Tiere wären. Die Juden sahen anfangs zu Boden und fegten gewissenhaft unter der Aufsicht eines Dorfpolizisten, dann aber hob einer den Kopf, ein Jugendlicher noch, und schaute die Kinder an und den Ball, der unter dem Stiefel eines der Gassenjungen lag. Eine Sekunde lang dachte ich, sie würden zu spielen anfangen. Straßenkehrer gegen Säuferkinder. Aber der Polizist machte seine Arbeit gut; kurz darauf war die jüdische Kehrbrigade verschwunden und die Kinder nahmen mit ihrem improvisierten Fußball die Straße wieder in Besitz.
Ich vergrub mich wieder in meine Papiere. Ich kümmerte mich um eine Lieferung Kartoffeln, die irgendwo zwischen der von mir kontrollierten Region und Leipzig verlorengegangen war, wo sie hätte ankommen sollen. Ich veranlasste, dass die Sache untersucht wurde. Den Lkw-Fahrern habe ich nie getraut. Ich war auch an einer Rübensache dran. Und an einer Möhrensache. An einer Ersatzkaffeesache. Ich ließ den Bürgermeister rufen. Einer meiner Sekretäre erschien mit einem Schreiben, in dem versichert wurde, dass die Kartoffeln in einem Eisenbahntransport meine Region verlassen hatten, nicht im Lastwagen. Die Kartoffeln waren auf Karren zum Bahnhof gelangt, die von Ochsen, Pferden oder Eseln, alles hier vertreten, gezogen wurden, aber nicht in Lastwagen. Es gab eine Kopie des Lieferscheins, aber die war verschwunden. Finden Sie die Kopie, befahl ich. Ein anderer Sekretär erschien mit der Nachricht, der Bürgermeister sei krank und hüte das Bett.
›Ist es schlimm?‹ fragte ich.
›Eine Erkältung‹, sagte mein Sekretär.
›Dann soll er aufstehen und herkommen‹, sagte ich.
Als ich wieder allein war, dachte ich an meine arme Frau, die mit zugezogenen Vorhängen im Bett lag, und dieser Gedanke machte mich so nervös, dass ich anfing, in meinem Büro auf und ab zu laufen, denn wäre ich stehen geblieben, hätte ich einen Hirnschlag riskiert. Dann sah ich erneut die Kehrbrigade die tadellos saubere Straße heraufkommen, und der Eindruck, dass sich die Zeit wiederholte, ließ mich unwillkürlich erstarren.
Aber Gott sei Dank war es nicht dieselbe Kehrbrigade, sondern eine andere. Sie sahen sich einfach zu ähnlich. Der beaufsichtigende Polizist jedoch sah anders aus. Der von vorhin war hochgewachsen und schlank und ging sehr aufrecht. Dieser war dick und klein, war sechzig Jahre alt und sah aus wie siebzig. Die fußballspielenden polnischen Kinder hatten sicher den gleichen Eindruck wie ich, sie traten wieder auf den Gehweg zurück, um die Juden vorbeizulassen. Einer der Knirpse sagte etwas zu ihnen. Ich vermutete hinter meiner Fensterscheibe, dass er die Juden beleidigte. Ich öffnete das Fenster und rief nach dem Polizisten.
›Herr Mehnert‹, rief ich von oben, ,Herr Mehnert.‹
Der Polizist wusste erst nicht, wer ihn rief, und drehte den Kopf orientierungslos in alle Richtungen, worüber sich die betrunkenen Jungen kaputtlachten.
›Hier oben, Herr Mehnert, hier oben.‹
Endlich sah er mich und stand stramm. Die Juden hörten auf zu arbeiten und warteten. Alle betrunkenen Kinder sahen zu meinem Fenster hoch.
›Wenn einer der Lausejungen meine Arbeiter beleidigt, verpassen Sie ihm eine Kugel, Herr Mehnert‹, sagte ich laut genug, dass alle mich hören konnten.
›Hier ist alles in Ordnung, Exzellenz‹, sagte Herr Mehnert. ›Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? ‹ rief ich.
›Vollkommen, Exzellenz.‹
›Schießen Sie nach Gutdünken, ist das klar, Herr Mehnert?‹
›Klar wie Kloßbrühe, Exzellenz.‹
Daraufhin schloss ich das Fenster und kehrte zu meiner Arbeit zurück. Ich hatte noch keine fünf Minuten über einem Rundschreiben des Propagandaministeriums gebrütet, als ich von einem meiner Sekretäre unterbrochen wurde, der mir mitteilte, dass man das Brot an die Juden verteilt habe, dass aber nicht genug für alle da gewesen sei. Im Übrigen habe er beim Überprüfen der Lieferung entdeckt, dass zwei von ihnen gestorben seien. Zwei Juden gestorben?, wiederholte ich verdutzt. Aber wenn doch alle aus eigener Kraft aus dem Zug gestiegen sind! Der Sekretär zuckte die Schultern. Gestorben, sagte er.
›Nun, nun, nun, wir leben in merkwürdigen Zeiten, finden Sie nicht?‹, sagte ich.
›Es waren zwei Alte‹, sagte mein
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