277 - Xij
gehört.«
Matt stutzte. Konnte er seinen Ohren trauen?
»Pluskwam…?«, fragte Aruula.
»Eine veraltete Ausdrucksform«, sagte Matt schnell. »Ich glaube, unser junger Freund hat eine höhere Bildung genossen.« Er bedeckte Moyks Antlitz mit Erde und wünschte ihm für den Fall, dass es doch ein Leben nach dem Tode gab, alles Gute für die Zukunft. Dann schaute er Xij an und sagte: »Was bist du für ein Jahrgang?«
Xij grinste nur.
»Du weißt, dass ich es weiß«, sagte Matt - was jetzt wiederum Aruula nicht verstand. »Wie bist du hergekommen?«
»Mit 'nem Schiff.« Xij deutete hinter mit einer vagen Bewegung hinter sich. »Vor 'nem halben Jahr.«
» Das meine ich nicht«, sagte Matt.
»Ich verstehe nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Aruula. Die Ladung auf ihrer Schaufel war die letzte. Sie sprang mit beiden Beinen auf das Grab und trat die Erde fest.
»Xij benutzt Worte aus einer längst vergangenen Zeit«, erwiderte Matt, »die heute keiner mehr kennen dürfte.«
»Ach so.« Damit schien das Thema für Aruula erledigt zu sein.
Aber nicht für Matt. »Wieso glaubst du an Moyks Tod schuldig zu sein? Weil er ohne dein Auftauchen nicht gestorben wäre? Als wir uns trafen, hast du gesagt, dass wir nicht die wären, die dich verfolgen. Wer verfolgt dich? Jemand aus deiner Heimat? Du bist doch fremd hier, oder? Wo kommst du her?«
Xij schmunzelte. »Aus dem unentdeckten Land, aus dem kein Wanderer wiederkehrt.«
»Xij Hamlet .« Matt nickte. »Du kennst dich also auch bei Shakespeare aus. Aber das war keine Antwort auf meine Frage. Und komm mir nicht mit: ›Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.‹ «(Hamlet, 1. Akt, 5. Szene; wurde später von Goethe für seinen »Faust« adaptiert)
Der Blick, mit dem Xij ihn bedachte, war nicht zu deuten. »Ihr habt recht«, kam dann endlich die Antwort. »Ich bin nur auf der Durchreise. Mein Ziel ist…« Ein kurzes Zögern. »Genau genommen steht es noch nicht fest. Ich wandere durch einen langen Tunnel. Er hat tausend Ausgänge, die in Kammern führen, in denen immer neue Herausforderungen warten. Doch eines steht fest: Irgendwann muss er enden. Dann stehe ich hoffentlich an der Spitze der Legion Etrangere vor meinem Onkel und schneide ihm das Herz aus der Brust!«
Aruula hatte es die Sprache verschlagen; sie glotzte Xij nur an.
Matt dagegen hatte einen Verdacht: »Xij Hamlet…«, wiederholte er. »Es ist kein Zufall, dass du dich so nennst. Dein Onkel und deine Mutter haben deinen Vater umgebracht, nicht wahr?«
»Wahr ist's, ist schade; und schade, dass es wahr ist.« Xij wandte sich ab.
»Aus welcher Zeit kommst du, Junge?« Matt stützte sich auf seine Schaufel.
»Zeit?« Xij drehte sich um und lächelte geistesabwesend. »Die Zeit ist aus den Fugen.«
Es bedurfte keines Beweises mehr, dass Xij kein Teil der Gegenwart war. Matt schluckte. Seine Aufregung wuchs. Stand er hier einem weiteren Zeitreisenden gegenüber? Doch aus welcher Zeit genau? Xijs Sprache war eine Mischung aus dem Schnodderjargon der 1960er Jahre und dem hochnäsigen Getue alter Theatermimen, vermischt mit Begriffen des frühen 21. Jahrhunderts. Seine Aussprache klang leicht deutsch - hanseatisch, um genau zu sein.
Das alles passte nicht zu seinem Alter; Matt schätzte ihn auf sechzehn, höchstens achtzehn Jahre, von denen er einige bereits in dieser postapokalyptischen Welt verbracht haben musste, sonst hätte er sich hier nicht derart gut zurechtgefunden.
»Wenn ihr weiterzieht«, sagte Xij unvermittelt, »nehmt ihr mich dann mit?«
Matt und Aruula schauten sich an. »Wohin willst du?«
»Wohin der Wind weht.« Xij musterte Matt von Kopf bis Fuß.
»Was ist mit dem Tunnel?«, fragte Aruula.
Xij deutete auf den Boden. »Im Moment führt er nach unten.«
Matt verstand kein Wort. Er kam auch nicht dazu, über Xijs verschrobene Metaphern nachzudenken, dann nun war der Sturm da.
Mit ihm kam heftiger Regen. Er peitschte die Baumwipfel und trieb Matt, Aruula und ihren geheimnisvollen neuen Bekannten in das Haus eines Gottes, den die meisten Menschen längst vergessen hatten.
***
Axya erwartete sie hinter dem Portal, das Dopee sofort wieder schloss. Im Inneren der Kirche brannten Kerzen. Die Gestalten der Anwesenden warfen unheimliche Schatten.
Matt schaute sich um. Dass er keine Kirchenbänke sah, wunderte ihn nicht: Der 2012 ausgebrochene nukleare Winter hatte die ganze Erde dreieinhalb Jahrhunderte lang in Eiseskälte gestürzt. Damals
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