28 Tage lang (German Edition)
würde. Am frühen Abend erreichten wir einen Häuserinnenhof, in dem vielleicht hundert Zivilisten standen, alle mit dem wenigen Hab und Gut, das sie aus ihren brennenden Häusern hatten retten können und das für sie verrückterweise genauso viel Bedeutung hatte wie die Glasmurmel für Rebecca.
Diesmal wurden wir nicht beschimpft, ganz im Gegenteil, sie flehten uns an: «Helft uns!», «Bringt uns aus dem Ghetto!», «Rettet mein Kind!»
Wir Kämpfer wurden von allen Seiten bedrängt. Aber wir wussten auch nicht, was zu tun war.
«Wir können nicht die ganzen Menschen mitnehmen», sagte Avi.
«Wir können sie erst recht nicht ihrem Schicksal überlassen», widersprach Rachel.
Und mir war klar, dass beide recht hatten.
«Wir müssen ein neues Versteck suchen!», sprach Rachel das Offensichtliche aus. «Einen Bunker, der groß genug ist.»
«Und beten, dass die Deutschen heute Nacht nicht kommen!», erklärte Avi.
«Ich bete nicht», erwiderten Amos und ich gleichzeitig.
Wir Kämpfer teilten uns in Spähtrupps auf. Amos und ich machten uns auf den Weg. Unheimlich leuchtete der Nachthimmel über dem Ghetto. Unwillkürlich starrte ich in Richtung Muranowskiplatz. Die Fahnen wehten noch im Wind. Aber das war für mich nur ein schwacher Trost. Heute hatten wir Menschen sterben sehen. Esther sterben sehen!
Amos sprach kein Wort, während wir durch die Straßen gingen.
«Esther …», hob ich an.
«Starb ehrenhaft», erwiderte er kurz und bündig, um das Gespräch abzuwürgen.
Ehrenhaft. Von einer Handgranate zerfetzt zu werden, hatte für mich wenig von einem Heldentod. Da konnte mein Verstand mir noch so sehr etwas anderes einreden wollen, ihr Tod erschien mir genauso elendig wie der von jedem anderen Ghettojuden.
Schweigend durchkämmten Amos und ich Haus um Haus auf der Suche nach einem Bunker. Dabei machten wir nur einmal Pause, als wir in einer verlassenen Wohnung Wasser fanden. Wir tranken, bis unser Durst gelöscht war. Erst nach etwa einer Stunde fanden wir einen Bunker unter dem Schutt eines halb verfallenen Hauses.
«Unmöglich, dass wir hier alle Platz finden», stellte ich fest, während ich mir das Elend darin ansah: Die Menschen saßen dicht gedrängt. Verschwitzt. Verzweifelt. Verängstigt.
«Für unsere Gruppe wird es reichen», sagte Amos.
«Wir können die anderen Zivilisten nicht ihrem Schicksal überlassen», widersprach ich zornig.
«Lassen wir Rachel entscheiden», schlug er vor, und ich nickte. Allerdings hatte ich keine Ahnung, ob Rachel die Zivilisten – und damit auch Daniel und seine Rebecca – zurücklassen würde. Würde ich in diesem Falle bei Daniel bleiben? Nein, eine einzige Kämpferin könnte den Zivilisten gar nicht helfen. Ich würde Rachel und den anderen folgen und damit Daniel im Stich lassen.
Gegen Mitternacht erreichten wir wieder den Hof, in dem zu unserer Überraschung Aufbruchstimmung herrschte. Noch bevor wir fragen konnten, was geschehen war, erzählte mir Daniel: «Eure Leute haben einen Bunker für uns gefunden.»
«Für alle?», fragte ich ungläubig.
«Das haben sie gesagt.»
«Das … das ist ein Wunder», fand ich.
«Ich hab doch gesagt», lächelte Daniel, «wir müssen nicht sterben.»
Er glaubte ans Überleben. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Vermutlich war er verrückt. Das musste es sein, mit etwas anderem war seine Zuversicht nicht zu erklären. Ja, Daniel war noch verrückter als ich. Aber auf eine bessere Art und Weise.
63
Der Bunker in der Miła-Straße gehörte Schmul Ascher und seiner Chompe-Bande. Der Mafiaboss war viel dünner als noch vor einem Jahr und hatte jetzt eine Narbe im Gesicht; garantiert stammte sie aus seiner Gefangenschaft, aus der er sich noch einmal hatte freikaufen können. Mit all seinem restlichen Geld hatten er und seine Leute diesen riesigen Bunker errichtet. In ihm gab es einen Trinkwasserbrunnen, elektrischen Strom, eine perfekte Küche, elegante Sofas und sogar Vitrinen. Ein feiner Salon unter der Erde.
Verbrechen lohnte sich. Nicht nur für deutsche Industrielle.
Ascher trat zu mir, erkannte mich sofort und fragte: «Hast du Ruth noch mal gesehen?»
Sollte ich ihm berichten, dass sie Asche gehustet hatte, von der Puppe in Treblinka vergewaltigt worden war und halb wahnsinnig «Lulei, lulei, du mein Sohn» gesungen hatte?
«Sie hat dich geliebt», antwortete ich.
Das reichte Ascher. Er schloss kurz die Augen. Auch er hatte sie geliebt.
Er öffnete die Augen wieder, ging entschlossen zu unseren
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