28 Tage lang (German Edition)
harsch. Doch in Anbetracht dessen, wie wütend ich gerade auf ihn wurde, weil er kein bisschen zögerte, war es sogar eine Spur zu freundlich. «Was bringt es ihnen, wenn du mit ihnen stirbst?»
«Mein Platz ist an ihrer Seite.»
«Das ist keine Antwort», herrschte ich ihn an. «Ich hab gefragt: Was bringt es ihnen, wenn du mit ihnen stirbst?»
«Das sind meine Brüder und Schwestern. Sie brauchen mich», wurde nun auch er zornig. Nicht so heftig wie ich, aber für Daniels Verhältnisse schon sehr, sehr wütend.
«Ich brauche dich auch!»
Jetzt verblasste sein Zorn, erkannte er doch, wie verzweifelt ich war. Er trat auf mich zu, um mich in den Arm zu nehmen. Es sollte eine Ich-bin-bei-dir-Geste werden, obwohl er mir doch gerade klargemacht hat, dass er in jedem Falle bei den Kindern bleiben wollte und somit eben nicht bei mir.
«Nicht …», hielt ich ihm die Hand abwehrend entgegen.
Er blieb stehen.
«Es sei denn, du kommst mit mir …»
Er verharrte weiterhin.
Mir schossen die Tränen in die Augen, doch anstatt ihnen freien Lauf zu lassen, schrie ich: «Korczak ist alt! Der kann ruhig sterben. Aber du doch nicht!»
Daniel widerte es offensichtlich an, dass ich der Ansicht war, sein geliebter Ersatzvater könne ruhig sterben. Das war mir jedoch egal: «Er hat nicht das Recht, dich mitzunehmen!»
«Das ist meine Entscheidung!»
«Eben!»
Wir starrten uns an, und meine Lippen zitterten so sehr, weil ich nun so heftig dagegen ankämpfte, nicht zu weinen.
«Es ist wirklich deine Entscheidung», bat ich jetzt leise, «entscheide dich …»
Ich hätte «fürs Leben» sagen sollen.
Aber ich flüsterte: «… für mich.»
Daniel antwortete nicht.
Er war sichtlich hin- und hergerissen.
Aber nicht so sehr, dass er sich nicht entscheiden konnte. Korczak kannte er schon fast sein ganzes Leben, die meisten der Kinder hatte er schon seit Jahren ins Herz geschlossen. Mich erst seit Monaten. Sie waren eine Familie von zweihundert. Ich war nur seine Freundin. Wie konnte die Liebe zu mir, egal wie groß sie auch war, mit so einer Verbundenheit mithalten?
Bevor Daniel mir sagen konnte, dass er sich nicht für mich entscheiden würde, und bevor ich meinen Tränen endlich freien Lauf lassen konnte, hörten wir die Laster.
Wir eilten zum Rand unseres kleinen Daches. Zwei Laster hielten vor dem Waisenhaus. Judenpolizisten, SS -Leute und die Tiere aus der Ukraine sprangen von den Ladeflächen und stürmten in das Haus.
«Ich muss zu den Kindern!», erklärte Daniel, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
Er wollte zur Dachluke, aber ich stellte mich ihm in den Weg: «Vielleicht schauen sie hier oben nicht nach! Dann nehmen sie uns nicht mit!»
Daniel wollte mich zur Seite schieben. Ich aber hielt ihn an den Armen fest und schrie ihn an: «Sie werden dich umbringen!»
Das war ihm natürlich klar.
«Mein Platz ist an ihrer Seite», wiederholte er noch mal den Satz, den ich mittlerweile so sehr hasste. Er riss sich von mir los und öffnete die Dachluke. Und ich …
… ich sah rot.
Ich war nicht Herr meiner Sinne: Daniel durfte nicht da runter. Er durfte nicht sterben!
Ich nahm eins der Holzbretter vom Boden und schlug zu.
22
Es dauerte etwas, bis ich realisierte, was ich da getan hatte: Daniel lag ohnmächtig vor mir auf den heißen Ziegeln. Sein Hinterkopf blutete.
Mein Gott, hatte ich ihn etwa getötet?
Ich kniete mich neben ihn, um nachzusehen, ob er noch lebte. Er atmete noch. Und mit einem Mal war ich froh, ihn niedergeschlagen zu haben. Jetzt konnte er nicht mehr herunter zu den Kindern gehen. Er würde überleben. Vorausgesetzt, die Deutschen würden uns hier oben nicht finden.
Hastig schloss ich die Dachluke. Die SS -Männer sollten nicht auf sie aufmerksam werden, falls sie das Treppenhaus nach oben gehen würden, um nach Kindern zu suchen, die sich vor ihnen versteckten.
Anschließend legte ich mich ebenfalls hin. Obwohl die heißen Ziegel auf meiner Haut brannten, robbte ich mich zum Rand des Daches, um nachzusehen, was unten auf der Straße passierte. Ich erwartete, dass man die Kinder und Korczak brutal aus dem Haus treiben würde. Doch nichts dergleichen geschah. Die Deutschen und ihre Helfer traten alleine auf die Straße. Ohne Korczak. Ohne die Kinder.
Verschonten sie etwa das Heim? Hatte ich Daniel ganz umsonst niedergeschlagen?
Der Räumungstrupp machte allerdings keinerlei Anstalten, wieder wegzufahren. Kein einziger Mann stieg auf die Ladeflächen, sie alle warteten vor dem
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