285 - Am Nabel der Welt
das Vorhaben verfolgen, dessentwegen wir eigentlich hierher kamen. Wir sind den ermittelten Absturzkoordinaten schon verdammt nahe.«
***
Dem Angriff ging kein Warnzeichen voraus.
Kurz zuvor unterhielt sich Calora noch mit ihrer kleinen Aufpasserin, die vor gar nicht so langer Zeit im Lager aufgetaucht war - zusammen mit einer ganzen Horde reichlich barbarisch anmutender Eingeborener.
Zu der kleinen Ivee hatte Calora sofort einen Draht gefunden, obwohl sie selbst immer noch nicht wirklich dazugehörte. Aber sie wurde geduldet und gelitten - genauso wie Damon, der momentan irgendwo drinnen beschäftigt war.
Lange Zeit war für sie beide das Wichtigste gewesen, den Quasi-Absturz überhaupt überlebt zu haben. Claudius Gonzales hatte Damons Einsatz honoriert, indem er die Außenseiter in ähnlicher Weise in der Gemeinschaft aufgenommen hatte, wie es auch mit den Bewohnern des nahen Dorfes geschehen war. Sie alle mussten ihren Beitrag an dem leisten, was hier entstanden war und immer noch entstand.
Aber auch heute, beinahe ein halbes Jahr nach der Bruchlandung, begriffen weder Calora noch Damon die tieferen Zusammenhänge dessen, woran sie tagein, tagaus schufteten. Niemand erklärte es ihnen, und auch Ivee war in dieser Hinsicht nicht zu überlisten. Calora wunderte sich immer wieder, wie gewieft die Kleine für ihr Alter war. Und in der ersten Zeit hatte sie Ivees Aufpasser-Funktion nicht einmal wirklich ernst genommen.
Inzwischen wusste sie, dass es keinen Unterschied machte, ob das kleine Mädchen oder eine erwachsene Person ein Auge auf sie hatte.
Oft schien es so, als könnte die bestimmende Kaste hier nicht nur jederzeit durch die eigenen Augen schauen, sondern auch durch die von ihresgleichen - was der eine wusste, schien auch dem anderen zuzufließen. Und ein paarmal in der Vergangenheit hatte es »stillen Alarm« gegeben, wie Calora es bezeichnete. Leute aus dem Dorf hatten versucht, der Knechtschaft zu entkommen - aber keiner von ihnen hatte es weit geschafft, weil die Häscher im gleichen Augenblick, in dem es auch nur einem der ihren aufgefallen war, über den Fluchtversuch Bescheid gewusst hatten. Die Fliehenden einzufangen und zu bestrafen, war kein Problem gewesen.
»Macht es dir wirklich gar nichts aus, anderen weh zu tun?«, fragte Calora das Mädchen, das eine weite Strecke zurückgelegt hatte, um hierher zu gelangen - wenn auch nicht annähernd so weit wie die Marsianer. »Ich weiß, wir haben schon oft darüber gesprochen, aber ich kann nicht glauben, dass ein so freundliches Mädchen wie du -«
Ivee ließ Calora nicht ausreden. »Ich tue niemandem weh. Das habe ich noch nie getan, und das weißt du ganz genau. Lu hat schon recht, wenn sie sagt, ich solle mich am besten nur noch über das Allernötigste mit dir unterhalten. Du wärst nicht gut für mich, sagt sie. Und ich glaub, das stimmt - obwohl ich dich gern mag. Ich weiß auch nicht…« Ivee wollte ihr schulterzuckend den Rücken kehren.
»Sei nicht böse auf mich. Ich entschuldige mich. Ich müsste allmählich wissen, dass wir über alles sprechen können, nur nicht darüber . Aber du hast keine Vorstellung, wie es schmerzt, da zu sein und doch nicht dazuzugehören. Ich darf arbeiten, helfen - aber ich werde nie ein Teil des Ganzen hier sein, wie du.«
Ivee schien besänftigt. »Würdest du das gerne?«
Calora zögerte. Wenn sie jetzt die Wahrheit sagte, würde das zarte Band, das sie gerade geknüpft hatte, sofort wieder zerreißen. »Aber ja«, log sie. »Ihr scheint alle so glücklich und zufrieden zu sein. Ihr wisst ja auch, wofür ihr das alles tut, während ich…«
Ivee hatte sich längst wieder zu ihr umgedreht. Sie war so hübsch, die Kleine. Calora, die noch keine eigenen Kinder hatte, hatte sich sofort in sie verliebt. »Darf ich was fragen?«
Calora schaute Ivee verwundert an. »Alles. Immer«, sagte sie. »Weißt du doch.«
»Wie fühlt sich das an, was du da trägst?«
»Das Exoskelett?«
Ivee nickte. »Und die Luft, die du atmest. Du scheinst immer noch so 'n Gerät zu brauchen, um es hier auszuhalten.« Ivee zog die Nase hoch. »Bevor du zu weit ausholst: Ich weiß, wie es funktioniert, aber ich wüsste gern, wie es sich anfühlt , darauf angewiesen zu sein.«
»Ich würde auch lieber so frei herumlaufen wie du«, gab Calora ungeniert zu. »Daheim könnte ich das. Aber daheim ist so weit weg, dass ich nicht glaube, jemals wieder dorthin zu kommen.«
Ivee blickte betreten zu Boden.
»He!«, rief Calora. »Du
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