2935 - Leichen lügen nicht
hatte Schnee in den Schuhen, das nasse Haar hing ihm wirr in die Stirn, er zitterte am ganzen Körper. Ein Grog wäre gut. Ein Party Punch. Ein Rum Toddy.
Oder ein Kuss von Lady Natascha!
Ihren richtigen Namen hatte er erst aus der Zeitung erfahren. Nancy West. Als er den Bericht über ihre Ermordung gelesen hatte, hatte er gerade mit seiner Frau am Frühstückstisch gesessen. Unwillkürlich hatte er einen leisen Schrei ausgestoßen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Ermordet! An dem Abend, als sie beide zusammen gewesen waren. Weil es in Kitty’s Salon einen Wasserschaden gegeben hatte, hatten sie sich ausnahmsweise im Hotel getroffen. Das Holiday Inn an der Lafayette. Natürlich war es nicht das Gleiche gewesen wie sonst. Die Möglichkeiten in einem Hotelzimmer waren stark eingeschränkt. Und die ganze Zeit über mussten sie leise sein, denn die Wände waren dünn.
Aber er hatte wahnsinnig unter Druck gestanden und auf dem Termin bestanden, bis sie nachgegeben hatte. Hatte ihn 500 Dollar extra gekostet. Aber nachher war es ihm besser gegangen. Viel besser. Lady Natascha wusste genau, was er brauchte. Und wie er es brauchte. Und wie heftig er es brauchte. Er besuchte sie erst seit einem halben Jahr, aber sie waren bereits ein eingespieltes Team.
Jetzt war sie tot. Eine Stunde, nachdem sie ihn verlassen hatte, musste sie ihrem Mörder begegnet sein. Irgendwo auf der Lower East Side. Vor einer Kirche. Er hatte den Namen vergessen. Erstochen. Mit einem Messer. Ihn schauderte bei dem Gedanken.
Seine Frau hatte ihn irritiert angestarrt. Er hatte irgendwas von einer Gewinnwarnung gemurmelt, von faulen Insidergeschäften und einem drohenden Aktiencrash.
Aber Lucy hatte ihm kein Wort geglaubt. Das hatte er gespürt. Sie hatte ihn so sonderbar angeguckt. Er kannte diesen Blick. Er ging durch ihn hindurch wie ein Röntgenstrahl. Ihm war es eiskalt den Rücken runtergelaufen. Dann hatte er sich hastig seinen Aktenkoffer geschnappt, die Zeitung hineingestopft und seiner Frau zum Abschied einen Kuss auf die Wange gehaucht.
»Kann spät werden, Schatz.«
Normalerweise sagte er diesen Satz, wenn er abends nach der Arbeit an der Federal Plaza noch einen Termin bei Lady Natascha hatte. Solche Termine würde es nie mehr geben. Er konnte es immer noch nicht glauben.
Eine grell leuchtende Außenreklame an der nächsten Straßenecke ließ ihn aufatmen. Oh thank heaven for 7-Eleven! Auf den Stufen wäre er fast ausgerutscht. Dafür war es im Ladenraum herrlich warm. Er bestellte einen Becher Kaffee und stellte sich an einen der drei Stehtische.
Außer ihm und der russischen Verkäuferin, einer Frau in den Vierzigern, war niemand im Geschäft. Bei dem Sauwetter blieb man lieber in den eigenen vier Wänden, bis die Schneefront weitergezogen war.
Es sei denn, man musste nachts arbeiten. Oder sexuelle Obsessionen trieben einen auf die Straße wie einen läufigen Hund.
Thomas Gloome rührte Zucker und Dosenmilch in den Kaffee und trank ihn so heiß er es eben noch aushalten konnte. Sofort breitete sich die Wärme im ganzen Körper aus.
Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen. In wie vielen Bars war er gewesen? Wie viele Drinks hatte er gekippt? Irgendwann hatte er sein Auto stehen gelassen und war zu Fuß weitergelaufen. Ein FBI-Agent ohne Führerschein – das konnte er sich nicht auch noch leisten. In seinem Leben gab es auch so schon genug Baustellen.
Verstohlen strich Thomas Gloome sich die Haare glatt. Er war nicht eitel. Aber eine Begegnung mit den Cops in seinem Zustand wäre eine Katastrophe. New York war seine letzte Chance. Noch eine würde er nicht bekommen. Er durfte sich keinen Fehler mehr leisten. Das wäre dann definitiv der letzte.
Er bestellte noch einen Kaffee und eine Apfeltasche. Ungeduldig zerrte er sein Handy raus. Keine Nachricht. Er unterdrückte einen Fluch. Vor 20 Minuten hatte er geschrieben. Warum zum Teufel bekam er keine Antwort?
Der Kaffee kam. Die Apfeltasche stopfte er sich gierig in den Mund. Plötzlich spürte er, dass er einen Bärenhunger hatte. Mittags hatte er zum letzten Mal etwas gegessen. Seit der Nachricht von Lady Nataschas Tod lebte er wie eine Maschine. Nach außen funktionierte er einwandfrei, aber der Motor seiner Seele war zerbrochen. Er fühlte nichts mehr. Nichts außer Schmerz.
Er hatte sie geliebt. Lady Natascha. Seine Domina. Die Frau, die ihm auf so lustvolle Weise Schmerzen zugefügt hatte.
Er orderte drei weitere Apfeltaschen und erntete dafür einen vernichtenden
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