295 - Dunkle Wasser
die Dringlichkeit unserer Lage klarmachen. Es wird sieben bis zehn Tagen dauern, bis wir ein Verteidigungsheer zur Verfügung haben. Bis dahin müssen wir uns so gut es geht zur Wehr setzen. Durch die große Kuppel sind wir geschützt und können einer Belagerung begegnen. Wir werden jeden rekrutieren, der fähig ist, eine Waffe zu führen.«
E'fah sprang ebenfalls auf. »Das reicht nicht, Kal'rag! Wir müssen sofort angreifen!« Sie stieß die geballte Faust ins Wasser. »Wir dürfen Dry'tor keine Gelegenheit geben, seine Soldaten mit dem anrückenden Heer zu vereinen! Vorher sollten wir Neu-Martok'shimre aufreiben!«
Kal'rags Scheitelkamm sank ein Stück hinab. Er hob den Kopf. In seinen weisen alten Augen lag Resignation. »Dein Rat ist gut, E'fah, und er macht deutlich, dass du einst eine Kriegskönigin warst. Auch ich würde so handeln… wenn ich es könnte.« Er hielt kurz inne und presste die wulstigen Lippen aufeinander, ehe er fortfuhr. »Ein Angriff auf Neu-Martok'shimre wäre unser vorzeitiger Untergang. Wir haben nicht mehr als hundert Stadtwachen und ausgebildete Kämpfer, während der Rest der Bevölkerung aus friedliebenden Hydriten, Wissenschaftlern und Künstlern besteht. Wie sollen wir gegen eine Übermacht kampferprobter Mar'osianer bestehen? Wir müssen froh sein, wenn wir Hykton lange genug verteidigen können, bis Verstärkung eintrifft.«
Quart'ol senkte den Kopf. Er musste Kal'rag in allen Punkten zustimmen.
Dessen Stimme wurde leiser. »Worauf wir uns verlassen können, das ist unsere Technik. Wir werden Schockstäbe und Blitzstrahler einsetzen, sowie die Bewaffnungen unserer bionetischen Quallen. Die wichtigste Aufgabe ist es nun, einen Verteidigungsplan auszuarbeiten. Wo immer die Angreifer durchbrechen, dürfen sie nicht weit kommen. Es erweist sich als weitsichtig und klug, dass wir die Kuppel mit denselben Funktionen ausgestattet haben wie die Oberflächen unserer Quallen. Wir müssen uns unbedingt innerhalb der kommenden Zyklen davon überzeugen, dass die Kuppel voll einsatzfähig ist. Durch die Möglichkeit, ihre äußere Schicht unter Strom zu setzen, werden es die Angreifer nicht einfach haben. Beraten wir uns, wie wir denen am effektivsten entgegentreten, denen der Durchbruch gelingt.«
Die anderen stimmten zu und nach dem ersten Schock wurden praktische Vorschläge gemacht.
Als Quart'ol spät in der Nacht nach Hause kam, war er froh, von Bel'ar gehalten zu werden. Beide schmiegten sich schweigend aneinander, in der düsteren Ahnung, dass es vielleicht bald kein Morgen mehr geben konnte.
***
Gilam'esh fand keinen Schlaf. Er fühlte sich unwohl in dem Meerespalast, der eigens für ihn gezüchtet worden war. Er hatte diese Stadt in mehr als einer Hinsicht im Stich gelassen. Sein Idealismus hatte dazu beigetragen, dass die Bewohner weggesehen hatten, als vor ihren Toren dunkle Wasser aufzogen. Hätte er nicht mit Sar'kir verhandelt, sondern umgehend die Aufgabe von Neu-Martok'shimre von ihr gefordert, wäre es nie so weit gekommen. Stattdessen hatte Sar'kir vor seinen Augen einen Stützpunkt für Dry'tor errichtet.
Mit einem Schaudern dachte Gilam'esh an die Historie der Hydriten und an die Chronik, die inzwischen für alle zugänglich war. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass Mar'os-Jünger nach einer Schlacht die Körper ihrer Feinde verspeist hatten. Würde das auch mit den Hyktonern geschehen, falls die Verstärkung durch die anderen Städte nicht rechtzeitig eintraf?
»Willst du ewig im Kreis schwimmen?«, fragte E'fah und sah ihn aus müden Augen an. In seiner geistigen Abwesenheit hatte er sie nicht kommen hören. Sie stemmte ihre Hände zwischen Hüften und Seitendornen. »Wir brauchen unsere Kräfte, Gila. Versuch zu schlafen.«
»Ich kann nicht. Du hattest recht. Willst du das nicht von mir hören? Ich war zu friedfertig. Ich wollte eine Zukunft schaffen, die es so nie geben konnte.«
E'fah schwamm auf ihn zu und sah zu ihm auf. »Du hast getan, was du für richtig hieltest. Es hätte auch anders kommen können. Du bist eben ein Wissenschaftler und kein Herrscher.«
Er schwieg einen Moment. E'fah irrte sich. In der Zeit, in der sie gemeinsam einen Körper geteilt hatten, hatten sie sich einander nicht vollständig offenbart. Es war ihnen beiden gelungen, Teile ihrer Vergangenheit vor dem anderen zu verbergen. Sein Blick wanderte über ihren Körper und er spürte, wie sehr er sie brauchte. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen, doch stattdessen hob er
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