3. Die Connor Boys: Diese Nacht kennt kein Tabu
Michael ihre gemeinsame Familienforschung auf eine persönliche Art erweitert.
Sie setzte sich neben ihn. Er drückte den Knopf der Fernbedienung, der Videorecorder sprang an, und ein silbergrauer Schleier flimmerte über den Bildschirm. Es war ein alter Film, aber nicht so alt, dass sie nicht die Aufnahme der Golden Gate Brücke in San Francisco erkennen konnte. Und dann war er da. Gable. Ein junger, anziehender, unvergesslicher Clark Gable.
Julia und Benjamin sahen ihn das erste Mal 1936 in dem Film „San Francisco", den Michael jetzt extra ausgeliehen hatte. Für Simone. Für sie beide. Damit sie ihre Großeltern besser verstehen lernen konnten. Simone wollte den Film sehr gern sehen. Sie war nur... nervös.
Michael griff nach der Schüssel Popcorn. Als er sich zurücklehnte, rückte er ein Stück näher an Simone heran. So nah, dass er einen Arm um ihre Schulter legen konnt e. „Es ist etwas kühl hier", behauptete er. „Ich will nicht, dass du frierst. Nimm dir was Popcorn."
Sie nahm sich etwas Popcorn. Aber Michaels Arm lenkte sie eher von dem Film ab. Er hatte nach dem Abendessen geduscht, sich eine alte Jeans und einen weiten Pullover angezogen, aber sein Oberkörper war warm, und so dicht an ihn geschmiegt, wurden bei ihr bekannte Gefühle wach. Er war jetzt entspannt, aber sie wusste nur zu gut, wie rasch sich das ändern konnte und seine Leidenschaft durchbrach.
„Der Film hat aber eine schlechte Qualität", bemerkte Michael.
„Furchtbar", stimmte Simone zu, obwohl sie bis jetzt weder auf die Qualität des Films noch auf den Inhalt geachtet hatte. Ihre Gedanken kreisten nur um Michael - und die Tagebücher ihrer Großmutter.
Sie hatte die Eintragungen von 1934 bis 1936 gelesen. Vieles war damals in der Welt geschehen. In Deutschland war Hitler an die Macht gekommen und in China Mao Tse-Tung.
London bekam seinen ersten Fernsehsender, den BBC. Studebaker hatten 840 Dollar gekostet, und Flash Gordon sowie Bück Rogers waren die Haupthelden in den Comicbüchern.
Michael hatte sich zwar auch für diese Einzelheiten interessiert, aber viel wichtiger war ihm der neue Tanz von 1935, die Rumba, in den Julia sich verliebt hatte. Simone schloss die Augen. „Komm, Simone, komm!" Es klang ihr jetzt noch in den Ohren, wie Michael das gesagt hatte, und deutlich sah sie vor sich, wie sie ihm Rumba beigebracht hatte. Sie hatten sich geneigt, gewiegt und gelacht, waren durch das Empfangszimmer und durch die Halle bis nach draußen auf die mondbeschienene Veranda getanzt. Und zum guten Schluss hatten sie sich auf dem Boden im Empfangszimmer geliebt.
„Ist dir kalt, Schatz? Soll ich die Fenster zumachen?"
„Nein, es ist alles in Ordnung", versicherte Simone ihm, obwohl das nicht stimmte. Michael sprach vollkommen sachlich mit ihr, und dennoch lief ihr ein Schauer der Erregung über den Rücken, weil sie noch an einen anderen Tag denken musste. Da war Michael mit einem Tablett zu ihr auf den Dachboden gekommen. Er hatte Kaviar, Cracker und Champagner mitgebracht. Ben hatte Julia Kaviar und Champagner zu kosten gegeben und ihn ihr mit demselben Tablett serviert. „Komm, Simone, komm!" hatte Michael gesagt. Er habe Kaviar noch nie gegessen, erzählte er ihr, und ob sie nicht mal probieren wolle? So hatten sie zusammen Kaviar ge gessen und Champagner getrunken. Und irgendwie hatten sie sich dann auf einem Bett aus alten Kleidungsstücken zärtlich geliebt.
Jedes Mal, wenn das passierte, hatten sie sich vorher mit ihrer gemeinsamen Familiengeschichte beschäftigt. Unverständlich, was das für Folgen hatte, denn schließlich waren sie doch beide bemüht, nicht dieselben Fehler ihrer Großeltern zu begehen. Leider dachte sie nie an Julia, wenn sie durch das Haus tanzten oder wenn Michael sie küsste.
Dann dachte sie nur an ihn. Michael war beherrscht, sachlich, nüchtern, logisch. Und doch der empfindsamste Mann, den sie je gekannt hatte. Auf ihre Zärtlichkeiten reagierte er sofort. Zum Glück ahnte er nicht, wie sehr sie innerlich bewegt war, und sie würde auch nie etwas verraten. Er durfte nicht auf den Gedanken kommen, dass sie sein Verhalten romantisch fand. Für Michael war Romantik sentimentaler Unfug.
Für sie auch.
„Unglaublich kitschig", murmelte er.
Simone richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. „Wirklich sehr rührselig", pflichtete sie ihm prompt bei. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute sich damals eine so unrealistische Geschichte gern angesehen
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