3. Reich Lebensborn E.V.rtf
Ruhe Befehl. Trotzdem brodelt es beständig unter der Oberfläche. Zu verschieden sind die Mädchen und Frauen, die der Lebensborn in seinen staatlich finanzierten Eintopf warf.
Obwohl es im Heim verpönt ist, sich über persönliche Dinge zu unterhalten, gibt es kaum einen anderen, wenn auch nur geflüsterten Gesprächsstoff.
Am besten steht Doris mit Frau Ingeborg, die keine Ahnung 194
hat, was der Lebensborn überhaupt ist. Sie stammt aus der benachbarten Kreisstadt und wurde hierher eingeliefert, weil die anderen Frauenkliniken überbelegt waren. Sie wundert sich, aber sie versteht die Zusammenhänge nicht. Sie betrachtet das seltsame Zeremoniell als einen obskuren Kult, in den sie als Außenseiterin nicht eingeweiht sein kann. Und in ein paar Wochen wird sie, wie viele andere Mütter, die zufällig und ohne eigenes Zutun dem Lebensborn begegneten, ihr Kind und ihr Gepäck nehmen und nie mehr etwas von dieser Organisation hören.
Dann gibt es, stellt Doris fest, die Gruppe um Frau Kempe, eine Minderheit von Frauen der SS-Offiziere, die hierherkamen, um die vorzügliche ärztliche Betreuung auszunützen, die außerdem kostenlos ist. Diese Mütter gehören zu den Nutznießern des Systems. Auch sie schütteln den Kopf über den Betrieb, tuscheln und schimpfen oder schreiben es ihren Männern. Aber das Bewußtsein, zur Elite zu gehören, frißt bei den meisten die Zweifel ...
Am meisten bedauert Doris die Opfer aus den
›Schulungslehrgängen‹ von Westroff-Meyer. Wenn diese Mädchen nicht von Natur aus herzlos und stumpf sind, müssen sie daran zerbrechen, Mütter zu sein, ohne Mütter zu bleiben. Diese Gruppe nur blonder, ausgesuchter Frauen spiegelt am brutalsten die Rassenpolitik wider. Aber auch sie ist nur ein Teil des Lebensborns.
Denn das Reservoir dieser wahnwitzigen Organisation wird von vielen Mädchen gestellt, die Doris in diesem Heim auf Schritt und Tritt trifft. 20-oder 25jährige, die der Leichtsinn oder der Zufall hierherspülte. Objekt ist das Kind, wenn möglich nordisch oder flämisch. Auch dinarisch geht noch. Und wenn alle drei Merkmale fehlen, ist es noch als lebende Blutkonserve willkommen ... Der Führer braucht Soldaten. Es wird noch lange dauern, bis Doris das voll begreift, obwohl sie die Bilanz jetzt selber ziehen muß: Nicht einmal ein 195
Fünftel der in diesem wie in allen anderen Lebensborn-Heimen geborenen Kinder entstammt einer Ehe. Die Organisation mit dem spießigen Namen wurde zum riesigen Umschlagplatz des ledigen Kindes.
Erst nach dem Krieg wird man erfahren, daß die Zahl der
›Führerkinder‹ in die Zehntausende geht. Zu dieser Zeit wird man auch in den Geheimarchiven der SS Dokumente finden, die beweisen, daß Himmler nach dem Krieg für bewährte SSLeute die Ehe überhaupt abschaffen wollte. Die Pläne zur Polygamie waren fertig. So gespenstisch und fanatisch, daß
selbst besonnene Gegner des Nationalsozialismus sie nicht für echt halten wollten.
So lebt Doris in einer seltsamen Welt. Sie kümmert sich nicht um ihre Umgebung. Sie wartet, hofft und bangt. Sie nimmt einen Brief von Klaus in Empfang, geht in ihr Zimmer, um ihn allein zu lesen.
»Jetzt begreife ich«, schreibt der junge Oberleutnant an seine Frau, »was das ist, wenn du Angst um mich hast. Denn jetzt habe ich jeden Tag Angst um dich. Fürchterliche Angst. Ist einmal keine Post da, dann glaube ich, daß etwas passiert sein muß. Vor lauter Unruhe hätte ich gestern beinahe eine Maschine gerammt ...«
In diesem Moment setzt der Schmerz ein. Klaus, denkt Doris. Sie krümmt sich zusammen, ihre Hand zerknüllt den Brief. Langsam verebbt die Welle. Die Lippen lösen sich wieder. Die Augen werden groß und leuchtend. Sie sehen Frau Kempe nicht, die jetzt das Zimmer betritt. Der Blick geht über sie hinweg, durch sie hindurch, weit weg in eine Ferne, in der das Wunder beginnt.
Es hat schon begonnen. Doris lächelt zaghaft. Grete Kempe betrachtet mit einem schnellen, verständigen Blick die zusammengezogene Gestalt auf dem Bett.
»Es ist Zeit«, sagt sie, »ich gebe gleich Bescheid.«
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13. KAPITEL
Abends um halb acht liegt Doris im Kreißsaal des Heims. Die Decke ist kalkweiß. Der Spiegel der Beleuchtung blendet wie eine metallene Sonne.
Dr. Jessrich beugt sich über sie. Er hat winzige Wassertröpfchen im Gesicht, hebt unschlüssig die Schultern.
»Es kann Komplikationen geben«, sagt er zur assistierenden Oberschwester. Seine Worte klingen, als ob er Sand zwischen den Zähnen
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