30 - Auf fremden Pfaden
von den geschichtlichen Gesetzen, den geschichtlichen Kräften und den geschichtlichen Erscheinungen; sie hat nachzuweisen, daß gewisse geschichtliche Kräfte nach gewissen unumstößlichen geschichtlichen Gesetzen gewisse geschichtliche Erscheinungen zu Tage fördern. Welches Geschichtswerk aber zählt uns die Kräfte und Gesetze auf; welches Geschichtswerk gibt uns eine genaue Erklärung von der notwendigen Entwicklung eines Ereignisses nach diesen Gesetzen und durch diese Kräfte?“
Ich muß gestehen, diese Darlegung frappierte mich; sie entstammte jedenfalls nicht einer phantastischen Weltanschauung, sondern war das Produkt eines aufmerksamen Nachdenkens über die Vorkommnisse des realen Lebens.
„Eure Analogik ist keine gewöhnliche, Mynheer“, antwortete ich, „aber sie scheint überzeugend zu sein.“
„Scheint? Sie ist es wirklich! Sagt mir, was findet Ihr in Euren Geschichtswerken? Eine Aufzählung derjenigen geschichtlichen Erscheinungen, derjenigen Ereignisse, welche sich in dem Zeitpunkt, von welchem aus wir erzählen können, teils wirklich zugetragen haben, teils zugetragen haben sollen. Ist das Geschichte? Das ist nur einfache Chronik; denn wo bleiben die geschichtlichen Kräfte und Gesetze? Der Naturforscher, der Chemiker wirkt gleichsam schöpferisch – freilich nur in sehr beschränktem Sinn – indem er durch die ihm bekannten Naturkräfte nach den ihm ebenso bekannten Naturgesetzen verändert, zerstört oder hervorbringt. Was aber tut der Geschichtsforscher? Er sammelt die äußeren Tatsachen, reiht sie an einem beliebigen Faden auf, wie der Kaffer seine Glasperlen, und kann nichts über ihre Erzeugung und Entwickelung sagen, ebensowenig, als der Kaffer weiß, wie seine Glasperlen entstanden sind. Und dennoch gibt er diesem Kalender den Namen der Geschichte! Ja, die Geschichte sollte die Mutter der Politik sein! Das aber, was Ihr Geschichte nennt, ist ein unfruchtbares Ding. Was sind Eure sogenannten Politiker? Sie streiten sich um die Früchte von Bäumen, die sie nicht gepflanzt haben, und verstehen es nicht, einen Kern zu pflanzen, welcher ihnen diese Früchte auf einem ebenso sichern wie friedlichen Wege bringen würde. Ich sage Euch, Mynheer: Erst dann, wenn unsere Erkenntnis hindurchgedrungen ist in jene geheimnisvolle Tiefen, aus denen von dem allmächtigen Schöpfer selbst angeordnete weltgeschichtliche Gewalten nach unumstößlichen weltgeschichtlichen Gesetzen weltgeschichtliche Tatsachen emporwachsen lassen aus dem Boden, dessen Produkte wir bisher hinnahmen, ohne uns ihrer Erzeugung zu bemächtigen, dann erst können wir sagen: wir haben Geschichte. Dann werden wir Herren der Ereignisse sein; dann werden wir dieselben zu machen, zu fabrizieren verstehen, wie der Handwerker sein Werk und der Poet sein Gedicht. Dann wird die Geschichte das Kind Politik gebären, welches als Königin des Erdkreises demselben den ewigen Frieden bringt und das Schwert in die Pflugschar verwandelt, denn der Streit, der Krieg wird zur Unmöglichkeit werden, da jeder die Gesetze und Kräfte kennt, nach und mit denen der andere wirkt und handelt. Statt der Konkurrenz der Waffe wird die Konkurrenz des Friedens walten, und die Entwicklung des Menschengeschlechts wird auf Bahnen geleitet werden, die so hoch über unserer jetzigen Kenntnis liegen, daß wir von ihnen nicht die mindeste Ahnung besitzen. Bis dahin aber wollen wir eifrig nach jenen Tiefen forschen und in Demut bekennen, daß wir noch Stümper sind!“
Er hatte mit einer Begeisterung gesprochen, welche sein Auge mit Flammen begabte. Dieser äußerlich so schlichte Mann war ein tiefer Denker und ein hinreißender Redner. Auch wenn ich danach gesucht hätte, es wäre mir doch nicht gelungen, sofort eine Entgegnung auf seine Thesen zu finden. Ich schwieg daher, und auch er vermied es, den Eindruck seiner Worte durch ein Brechen dieses Schweigens zu zerstören.
So ritten wir still und in Gedanken versunken nebeneinander her, bis er endlich doch den gesenkten Kopf erhob und zu mir herüberschaute.
„Das war ein Blick in die Zukunft, Mynheer. Laßt uns auch an die Gegenwart denken! Ihr wollt über die Berge. Habt Ihr eine bestimmte Adresse, an welche Ihr Euch da wenden wollt?“
„Nein. Ich fliege, wie der Vogel fliegt, und wo ich einen Baum finde, da lasse ich mich auf einen Tag in seinen Zweigen nieder. Und doch“, fügte ich, mich besinnend, hinzu, „ich hätte wohl eine Adresse, wenn man bei diesem Wort nicht an einen bekannten Punkt
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