Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
Vom Netzwerk:
im Verlies zu holen. Und sei es nur in Form von ein paar abgezupften Blättern.
    Ich weiß nicht, wie oft ich den Boden und die Fliesen in der Küche geschrubbt und poliert habe, bis sie makellos glänzten. Nicht die kleinste Wischspur, nicht der kleinste Krümel durfte die glatten Flächen trüben. Wenn ich glaubte, fertig zu sein, musste ich mich auf den Boden legen, um aus dieser Perspektive auch den hintersten Winkel kontrollieren zu können. Der Täter stand dabei immer hinter mir und gab Anweisungen. Es war ihm nie sauber genug. Unzählige Male nahm er mir den Lappen aus der Hand und zeigte mir, wie man »richtig« putzt. Er rastete jedes Mal aus, wenn ich eine schöne glatte Oberfläche mit einem fettigen Fingerabdruck beschmutzt hatte. Und damit die Fassade des Unberührten, Reinen zerstört hatte.
    Am schlimmsten aber war es für mich, das Wohnzimmer zu putzen. Ein großer Raum, der eine Düsternis ausstrahlte, die nicht nur von den heruntergelassenen Jalousien kam. Eine dunkle, fast schwarze Kassettendecke, dunkle Wandpaneele, eine grüne Couchgarnitur aus Leder, hellbrauner Teppichboden. Ein dunkelbraunes Bücherregal, in dem Titel standen wie »Das Urteil« oder »Nur Puppen haben keine Tränen«. Ein unbenutzter Kamin mit Schürhaken, auf einem Sims darüber eine Kerze auf einem schmiedeeisernen Ständer, eine Standuhr, der Miniaturhelm einer Ritterrüstung. Zwei mittelalterliche Porträts an der Wand über dem Kamin.
    Wenn ich mich länger in diesem Raum aufhielt, hatte ich das Gefühl, die Düsternis würde durch meine Kleider in jede Pore meines Körpers dringen. Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der »anderen« Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend.
     
    * *  *
     
    Heute weiß ich, dass Wolfgang Priklopil in diesem Haus, das seine Eltern in den 1970er Jahren gebaut hatten, über Jahre kaum etwas verändert hatte. Nur das obere Stockwerk, in dem sich drei Zimmer befanden, wollte er komplett renovieren und den Dachboden nach seinen Vorstellungen ausbauen. Eine Dachgaube sollte für zusätzliches Licht sorgen, der staubige Dachboden mit seinen nackten Holzbalken an der schrägen Decke mit Rigips-Platten verschalt und in einen Wohnraum umgewandelt werden. Für mich begann damit in zweifacher Hinsicht ein neuer Abschnitt meiner Gefangenschaft.
    Die nächsten Monate und Jahre sollte die Baustelle im Obergeschoss der Ort sein, an dem ich die meiste Zeit des Tages verbrachte. Priklopil selbst hatte damals keine geregelte Arbeit mehr, nur manchmal verschwand er, um mit seinem Freund Holzapfel »Geschäften« nachzugehen. Ich habe erst später erfahren, dass sie Wohnungen renovierten, um sie dann zu vermieten. Doch die Auftragslage kann nicht besonders gut gewesen sein, denn die meiste Zeit beschäftigte sich der Täter mit der Renovierung seines eigenen Hauses. Ich war seine einzige Arbeiterin. Eine Arbeiterin, die er bei Bedarf aus dem Verlies holen konnte, die Knochenarbeit verrichten musste, für die man normalerweise Fachkräfte kommen ließ, und die er »nach Feierabend« noch zum Kochen und Putzen nötigte, bevor er sie wieder in den Keller sperrte.
    Ich war damals eigentlich noch viel zu jung für all die Arbeiten, die er mir aufbürdete. Wenn ich heute zwölfjährige Kinder sehe, wie sie jammern und sich sträuben, wenn ihnen kleine Aufgaben übertragen werden, muss ich jedes Mal lächeln. Ich gönne ihnen diesen kleinen Akt des Widerstands so sehr. Ich hatte diese Möglichkeit nicht: Ich musste gehorchen.
    Der Täter, der keine fremden Handwerker im Haus haben wollte, übernahm den gesamten Ausbau selbst und zwang mich, Dinge zu tun, die meine Kraft bei weitem überstiegen. Ich schleppte mit ihm zusammen Marmorplatten und schwere Türblätter, zerrte Zementsäcke über den Boden, stemmte Beton mit Stemmeisen und Vorschlaghammer auf Wir bauten die Gaube ein, dämmten und verschalten die Wände, trugen Estrich auf. Wir verlegten Heizungsrohre und Stromkabel, verputzten die Rigipsplatten, schlugen einen Durchbruch vom ersten Stock in das neue Dachgeschoss und bauten einen Treppenaufgang mit Marmorfliesen.
    Dann kam das obere Stockwerk an die Reihe. Der alte Boden wurde herausgerissen, ein neuer verlegt. Die Türen wurden ausgehängt, die Türstöcke abgeschliffen und neu gestrichen. Die alten, braunen Fasertapeten mussten in der gesamten Etage von den Wänden gerissen, neue angebracht und gestrichen werden.

Weitere Kostenlose Bücher