31 - Und Friede auf Erden
Ich habe es entdeckt, aber doch nicht Ihr! – Ich bin heut klein, unendlich klein geworden, und doch auch wieder groß, unendlich groß. Ich habe Euch viel, sehr viel zu sagen. Der Eindruck, den Yin auf mich gemacht hat, ist ganz unbeschreiblich. Es gibt keine Worte, mit denen ich das sagen – – –“
Er unterbrach sich abermals. Es gab ein Geräusch unter unsern Balken. Hinabschauend sah ich, daß man einen Palankin aus dem Haus brachte und vor dem Tor niedersetzte. Dann erschien Yin. Da sprang der Governor sehr schnell von seinem Stuhl auf und sagte:
„Da ist sie ja! Schon jetzt! Sie will fort! Ich muß augenblicklich hinab, um Abschied von ihr zu nehmen.“
„Wo will sie hin?“ fragte ich.
„Nach Raffley-Castle hinüber. Aber davon wißt Ihr ja gar nichts. Mir jedoch hat sie es vertraulich mitgeteilt. Seht, da steigt sie eben ein! Ich muß rasch noch hinab, sonst trägt man sie mir davon, ehe ich ihr noch einmal die kleine, unendlich schöne Hand habe küssen dürfen. Wartet! Ich gehe nur hinab zu ihr, sonst weiter nirgendwohin. Ich bin gleich wieder da bei Euch, und dann – – –“
Was ‚dann‘ geschehen sollte, das hörte ich nicht, denn grad bei diesem Wort machte er meine Tür von draußen hinter sich zu. Ich sah, daß er trotz dieser seiner Eile zu spät kommen werde, denn Yin war in die Sänfte gestiegen, welche nun jetzt von den beiden Kulis aufgehoben und mit jener schnellen Art von Schritten fortgetragen wurde, welche den chinesischen Sänftenträgern zur Gewohnheit geworden ist, nämlich ein ausgiebiger, schnell vorwärtsbringender Trab. Als der Governor unten aus dem Haus kam, waren sie schon eine ziemliche Strecke mit ihr den Berg hinunter. Da rannte er hinter ihnen drein und rief dabei zu mir herauf:
„Ich hole sie ein; ich hole sie ein, Charley! Kommt mir nach, in die Stadt, nach dem Hafen! Es gibt vor heut abend nichts zu essen hier oben!“
Das klang sonderbar. Wie kam er auf die letzteren Worte? Und als ich nun sah, mit welcher Eile er, der vornehmste und bedachtsamste aller Gentlemen, hinter dem Palankin drein rannte und welche Schritte er dabei machte, da brach ich in ein lautes, herzliches Lachen aus. Ich glaubte, mir das gestatten zu können, denn ich war ja allein; aber da hörte ich hinter mir ein Echo klingen. Ich drehte mich um und sah Tsi. Er war in meine Stube gekommen, ohne daß ich es gehört hatte. Nun stand er da an der offenen Balkontür, sah den ‚Uncle‘ laufen und lachte grad ebenso herzlich wie ich selbst. Daß er die letzten Worte des Governor gehört hatte, bewies er mir, indem er sagte:
„Nichts zu essen heute abend? Da hat er mich nicht richtig verstanden. Er eilte gar zu schnell an mir vorüber! Wir gönnen unsern lieben Gästen ihre eigene Zeit und bitten sie darum erst für heut abend in den Speisesaal. Das sagte ich ihm, als er an mir vorüberging. Für außerdem hängt neben jeder Tür die Speisekarte. Er hat es auf die Sänfte abgesehen. Wer sitzt darin? Vielleicht Yin?“
„Ja, Raffley ist schon voran nach dem Hafen. Sie wollen nämlich – – – ah, das darf ich ja vielleicht gar nicht sagen!“
„Warum nicht? Nur immer heraus damit! Sie wollen hinüber nach Raffley-Castle, nicht? Er hat es auch mir mitgeteilt und meinem Vater ebenso, im Vertrauen natürlich! Und Yin hat es meiner Schwester gesagt, meiner Mutter und meiner Großmutter, ebenso nur im Vertrauen! Sie sehen, das Leben beginnt bereits sich chinesisch zu gestalten: Man behandelt die Vorkommnisse des Familienlebens nicht öffentlich, sondern vertraulich. Übrigens, wenn Sie speisen wollen, so geben Sie das Zeichen mit dem Gong, und sagen Sie dem Diener, was Sie wünschen! Das war es, worauf ich Sie aufmerksam machen wollte. Sonst aber sind Sie Ihr eigener Herr.“
Als er fort war, schaute ich draußen nach. Da hing neben jeder Tür ein kleiner Gong und über ihm ein Verzeichnis der Speisen und Getränke, welche man sich auf das Zimmer wünschen konnte. Das war eine Aufmerksamkeit, die ich sonst noch nirgends gefunden hatte. Ich hatte jetzt weder ein Bedürfnis noch einen Wunsch, sondern nur die Pflicht, dem Governor nach der Stadt zu folgen, da er das sehr wahrscheinlich von mir erwartete. Ich spazierte also ganz denselben Weg wie er, wenn auch bedeutend langsamer, den Berg hinunter, um zu versuchen, ihn dann irgendwo zu treffen.
Aber ich ging nicht allein, sondern ich wurde begleitet. Nämlich als ich zur Treppe hinunterkam, wurde eine der im Parterre liegenden
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