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31 - Und Friede auf Erden

31 - Und Friede auf Erden

Titel: 31 - Und Friede auf Erden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Türen geöffnet, und es trat ein Chinese heraus, der ganz augenscheinlich nicht von gewöhnlichem Stand war. Er wollte auch hinunter nach der Stadt, blieb aber stehen und verbeugte sich sehr höflich, um mich an sich vorüberzulassen. Als ich ebenso höflich zögerte, dies zu tun, sagte er in einem sehr guten Englisch, er vermute, daß ich ein Gast dieses Hauses sei, und als solcher stehe mir der Vortritt vor ihm zu. Da ich das nicht annehmen wollte, entspann sich ein kleines, wohlwollendes Wortgeplänkel, welches zu dem heiteren Ergebnis führte, daß wir einer dem andern erlaubten, neben ihm herzulaufen. Dieser Mann war der Pu-Schang (oberster Hafenbeamter) von Ocama. Er war bei dem ‚hohen Herrn‘ gewesen, womit er natürlich Fu meinte, um ihm Meldung zu machen und sich Verhaltensmaßregeln zu erbitten. Ich war noch kaum hundert Schritt mit ihm gegangen, so fühlte ich mich überzeugt, daß er ein sehr gewandter und sehr energischer Herr sei, doch lernte ich später auch noch manch andere, rein menschliche Tugend von ihm schätzen.
    Es war jetzt ungefähr drei Uhr nachmittags. Ich sah das am Stand der Sonne und zog, während wir im Gehen miteinander sprachen, meine Uhr aus der Tasche, um ihre Zeit mit der der Sonne zu vergleichen. Als er das sah, schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er schaute auch nach seiner Uhr, hielt seine Schritte bei einer am Weg stehenden Bank an und sagte:
    „Es ist drei Uhr nach europäischer Zeit. Wenn Ihr nicht große Eile habt, so bitte ich, hier einige Augenblicke zu warten. Es wird sich etwas zeigen, was jeden, der es noch nicht gesehen hat, im höchsten Grade überrascht.“
    „Was und wo?“ erkundigte ich mich, indem wir uns miteinander niedersetzten.
    „Da drüben an den Bergen“, antwortete er.
    „Wo Raffley-Castle liegt?“
    „Ja; eben dieses Castle meine ich. Ihr könnt es nicht sehen, denn es ist zu weit entfernt und liegt im Schatten des vorstehenden, hohen Berges. Dieser Schatten verdunkelt es grad einige Stunden vor und nach der Mittagszeit; sonst aber ist es immer hell zu sehen. Nur noch kurze Zeit, so wird es uns erscheinen.“
    Indem er dies sagte, hielt er seine Uhr noch in der Hand. An ihrer Schleife hing eine Betelnuß, auf welcher das eingegrabene und vergoldete Wörtchen ‚Shen‘ ganz deutlich zu lesen war. Ein noch dabei stehendes kleineres Zeichen konnte ich nicht erkennen. Ich vermutete also wohl mit vollem Recht, daß dieser Pu-Schang ein Mitglied des großen, von Fu gegründeten Bruderbundes sei, und ich gestehe, daß diese Vermutung genügte, ihm sofort meine Sympathie zu erwerben.
    Er bemerkte nicht, daß mein Blick auf seiner Uhr ruhte anstatt auf der Gegend, nach welcher er mit ausgestrecktem Arm deutete. Da stieß er einen lauten Ruf aus, der mich veranlaßte, aufzuschauen. Ich stimmte sofort und ganz erstaunt in diesen seinen Ruf ein, denn auf dem dunkeln Grund der dort im Westen und Nordwesten von uns liegenden Berge flammte jetzt ganz plötzlich das Zeichen eines Kreuzes auf, welches auf lauter strahlenden Diamanten zu bestehen schien und, wenn ich die Entfernung in Erwägung zog, von ganz außerordentlichen Dimensionen war.
    „Ein Kreuz, ein Kreuz, das Zeichen des Christentums!“ rief ich aus. „So etwas habe ich noch nie gesehen!“
    „Und hier sieht man es tagtäglich, nicht nur das Zeichen, sondern das Christentum auch selbst!“ antwortete er. „Dieses Kreuz ist ganz von selbst entstanden, ohne alle Berechnung derer, die es errichtet haben. Und so kam auch das wahre Christentum ins Land. Kein Mensch kann sich rühmen, es uns gebracht zu haben, denn es kam ganz von selbst; es kam – mit unserer ‚Shen‘. Gott läßt sich nicht durch Sterbliche verpflichten; das sollte man doch endlich einmal wissen!“
    Es entstand eine Pause, während welcher ich den Anblick der ganz eigenartigen Erscheinung versunken war. Dann fuhr er mit leiserer, fast andächtig klingender Stimme fort:
    „Ihr seid hier fremd, ein Europäer. Ich weiß nicht, ob Ihr so wie wir in Übung seid, Euch das Äußerliche nur mit Hilfe des Innerlichen zu erklären. Wo innen nichts ist, bleibt alles Äußere Schein, denn es ist leer. Wo aber der Glaube innerlich im Menschen lebt und darum tief im Volk mächtig wird, da bricht er sich bald auch nach außen seine Bahn und zwingt sogar, wie hier, die scheinbar toten Berge, ihn durch sein Flammenbild dem Lande kundzugeben!“
    „Und das ist Raffley-Castle, wirklich Raffley-Castle?“ fragte ich, ohne eigentlich eine Antwort

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