311 - Der Weg des Bösen
aus der Norm fiel, belanglos war. Und das hier fiel eindeutig aus der Norm.
Sie erschauerte, als Julian hinter sie trat und die Arme um sie legte. Seine Haut zu spüren, seine Hände...
»Was machst du?«, fragte er leise und küsste ihr Ohrläppchen.
»Ich musste einen Bericht über die Vorfälle schreiben«, antwortete sie. »Besser jetzt, solange alles frisch im Gedächtnis ist. Außerdem habe ich heute sonst keine Zeit mehr dazu.«
»Und wie viel Zeit hast du für mich?«, murmelte er und strich mit den Lippen ihren Nacken entlang.
Es kribbelte sie überall, und sie lehnte sich an ihn. »Ein bisschen. Und wie sieht es bei dir aus?«
»So viele Stunden, Minuten, Tage und Jahre wie nur möglich. Also ...heute Abend? Hier? Es ist so gemütlich und ich bin nicht unter Beobachtung...«
Sie schickte den Bericht ab, stand auf und umarmte ihn. »Ja, das wäre wunderbar. Aber jetzt haben wir noch ein wenig Zeit. Zurück ins Bett?«
Er grinste breit. »Von mir aus. Um Zeit zu sparen, ist mir aber auch jedes andere Möbel recht. Oder der Teppich...«
***
Leto landete den Gleiter auf dem Platz, wo Vera Akinora sie immer erwartet hatte. Das würde nun nie mehr geschehen. Die alte Frau war noch vor dem Anschlag gestorben und hatte die jüngsten Ereignisse zum Glück nicht mehr miterleben müssen.
Er musste nicht lange warten, bis jemand zu seinem Empfang kam. Überrascht sah er sich dem jungen Mann gegenüber, den er aus Mayas Erzählung ihres letzten Besuchs vor einigen Monaten kannte. »Blattschwinge! Du hast überlebt?«
Blattschwinge war bei dem Anschlag dabei gewesen und genau in dem Moment nach vorne gestürmt, als die Bombe explodierte. Mayas letztes Wort war sein Name gewesen, und ProMars hatte die Aufzeichnung sofort dafür benutzt, um den verhassten Waldleuten die Schuld zuzuweisen.
»Ich war unterhalb des Podestes vor der Druckwelle geschützt«, antwortete Blattschwinge. »Weil ich mir vorstellen konnte, was mir blüht, wenn ich aufgegriffen würde, bin ich so schnell wie möglich geflohen.«
»Also wolltest du Maya tatsächlich warnen.«
»Natürlich. Aber ich bin zu spät gekommen. Wie geht es der Präsidentin?«
»Unverändert. Deshalb bin ich hier. Bring mich zu Windtänzer.«
Blattschwinge zog die Brauen zusammen. »Du weißt, dass er nicht mehr mit deinesgleichen verkehrt, schon lange nicht mehr.«
»Das ist mir egal. Ich bin wegen Maya hier, und ich weiß, dass er sie im Frühjahr empfangen hat.«
»Du kannst mit mir reden.«
»Ich rede nicht mit einem Grünspan, sondern von Mann zu Mann.«
Zorn furchte die Stirn des jungen Mannes. »Du bist hier auf unserem Territorium, also ändere deinen Umgangston.«
Leto verlor allmählich die Geduld. »Jetzt hör mir gut zu, Blattschwinge: Ich bin euer Präsident –«
»Nicht von uns gewählt.«
»Präsident des gesamten marsianischen Volkes«, präzisierte Leto energisch. »Und in dieser Funktion werde ich jetzt mit deinem Anführer sprechen. Du bringst mich auf der Stelle zu ihm.« Er klopfte gegen seine Beinprothese. »Ich bin allein hier, ohne Leibwächter und ohne Waffen, und ich habe nur ein gesundes Bein. Das andere hat mir ein Idiot weggebombt. Aber glaub nicht, dass ich deswegen nicht gegen dich ankomme. Es geht um alles oder nichts, um die Zukunft des ganzen Mars, und ich weiche nicht, bevor ich Windtänzer nicht getroffen habe.«
Leto hatte keine Waffe mitgenommen, weil ihn das keinen Schritt weitergebracht hätte. In den Bäumen ringsum lauerten mindestens fünfzig Waldleute, die sehr empfindlich reagieren würden, wenn er einen der ihren bedrohte. Er musste sie anders beeindrucken.
Blattschwinge bebte vor Zorn. Aber er beherrschte sich, und dann nickte knapp. Er war also klug genug, um sich nicht von vordergründigen Gefühlen leiten zu lassen, und allmählich konnte Leto verstehen, wieso Windtänzer ihn als seine Nummer Eins eingesetzt hatte.
Blattschwinge eilte voran, und Leto musste zusehen, wie er mit seiner Behinderung hinterherkam. Er war nicht verärgert darüber; anstelle des Jungen hätte er vermutlich genauso gehandelt. Allerdings war er selbst zu stolz, um ein geringeres Tempo zu bitten, sondern achtete darauf, nicht den Anschluss zu verlieren.
Schließlich erreichten sie eine Lichtung tief im Wald. Leto war völlig außer Atem und verspürte Schmerzen in seinem versehrten Beinstumpf. Vorsorglich hatte er immer ein Mittel dabei, um Krämpfen vorzubeugen. Er schluckte das Pulver und wartete darauf, dass das
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