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Polen, der schon am Boden liegt, einmal voll über den Schädel.
Dann nimmt er seine Feinkostsachen und geht raus, als wäre nichts passiert. Andi und ich folgen ihm über den Gang in Richtung unserer Zelle, ganz langsam und normal, nur nicht rennen.
Die Beamten, die in der Zentrale hinter ihrer Panzerglasscheibe sitzen, können den ganzen Gang runter sehen, in die Küche sehen sie nicht, und es gibt dort auch keine Kamera. Es müsste ’ne Weile dauern, bis die was merken. Aber da schwirren schon die dummen Picco-Vögel aus, laufen aufgeregt vor der Küche hin und her, die Unruhe überträgt sich in den Fernsehraum, und es dauert nur drei Minuten, bis der Herr Müller, der diensthabende Beamte, seinen Platz in der Zentrale verlässt und in der Küche steht.
In der Küche hängt der Pole quer auf einem Stuhl, Nase angebrochen, Zahn halb weg, völlig blutende Lippe.
Der Müller fragt ganz freundlich: »Was ist hier passiert?«
Aber der Pole hat scheinbar wirklich ’nen Knacks in der Birne und sagt, ich zitiere nicht wörtlich, weil ich es nur erzählt gekriegt habe: »Fick dich, Scheißpolizei, fick dich!«
Der Müller packt den Polen am Schlafittchen, haut ihm eins in den Nacken, legt ihm Handschellen an und schleift ihn an den Armen einmal über den Gang nach vorn, wo es neben der Zentrale so eine Art Putzkammer gibt. Da drin verschwindet er mit ihm.
Der Andi und ich stehen hinter der Tür zu meiner Zelle, wir haben sie einen Spalt aufgelassen, aber wahrscheinlich hätte wir auch so gehört, wie heftig es jetzt in dem Zimmer scheppert.
Da drängt sich der Wlad an uns vorbei. Er hat irgendwas in der Hand, das ich nicht erkennen kann, aber ich sehe ihn damit über den Gang gehen und in der Zelle des Polen verschwinden. Als er danach wieder herauskommt, hat er nichts mehr in der Hand.
»Was war das denn?«, frag ich Wlad, als er zurück ist.
»War nur Messer, das der Pole vergessen hat.«
»Du hast dem ’n Messer untergeschoben?«
»Wollt ich nur, dass er es hat, bevor er geht nach Atzleben.«
In dem Augenblick geht draußen die Putzkammer wieder auf. Der Müller zieht den Polen an den Armen auf den Gang raus und legt ihn so an der Wand ab. Jetzt hat der Typ Fesseln an Händen und Füßen und sieht noch viel beschissener aus als vorher. Der Müller muss den richtig zusammengewichst haben da drin. Zehn Minuten später kommt der Notarzt, fünfzehn Minuten später findet die Zellenkontrolle ein Messer im Schrank des Polen.
Du stehst in der Zelle und lachst mit den anderen, gleichzeitig hast du auch Gänsehaut. Innerhalb von Minuten hast du gesehen, wie Knast auch sein kann. Wenn du nicht die Fähigkeiten hast, mit Leuten klarzukommen, zu erkennen, was kann ich mir bei wem herausnehmen, nicht die Fähigkeit hast, wie rede ich mit Beamten. Der Typ hat was weiß ich wie viele Zähne verloren und ’ne komplett gebrochene Nase, die war schon fast nach innen gekehrt. Er wurde von einem sehr einflussreichen Gefangenen zusammengeschlagen, dann wurde er von einem Beamten zusammengeschlagen, das ist das Schlimmste, was passieren kann. Du musst Angst haben vor den Gefangenen und Angst vor den Beamten. Niemand schützt dich, nur der Knast schützt sich selber.
Als ich am Abend wie an jedem Abend den Brief an meine Süße schreibe, bin ich richtig dankbar. Ich denke, wie glücklich ich eigentlich jeden Tag sein müsste, dass mein Vollzug so gut läuft und was ich für ein verdammtes Glück hab, die richtigen Leute kennengelernt zu haben. Ich sitz noch nicht lange, bin aber schon richtig etabliert. Ich bin Vorarbeiter Essenausgabe, ein absoluter Traumjob, ich hab eine Position und eine Funktion, ich hab meinen Zirkel aus vier, fünf Leuten. Ich lache viel, mir geht’s richtig gut. Ich sitze hier und fresse Zartbitterschokolade, weil ich gute Kontakte habe, während der Pole grade ins Krankenhaus wandert. Der Unterschied zwischen dem, wie es ihm und wie es mir geht, sind nur ein paar Meter, aber in dem Fall bin ich auf der richtigen Seite. Ich denke nicht mehr an draußen. Da gibt’s nur noch meine Süße. Ansonsten ist Knast wichtiger. Da ist meine Zelle, da sind meine Jungs. Es ist beängstigend, was mir grade so klar wird. Vielleicht schreib ich den Brief besser doch noch mal.
Es ist ein ganz komisches Gefühl, als der Müller uns am nächsten Morgen begegnet und uns mit einem Blick klarmacht, dass ab jetzt so ein Gentlemen’s Agreement zwischen uns herrscht, für das ein anderer über die Klinge gesprungen ist.
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