322 - Götterdämmerung
kletterte, wartete Matt bereits unten auf dem Pfad. Ihr fiel plötzlich die Situation auf dem Gletscher wieder ein. Wie sie auf dem Eisbruch gelandet war, dieser dünnen kalten Schicht unter sich, die Leben und Sterben voneinander trennte.
Als das Eis brach, hatte sie das erste Mal seit langer Zeit wieder Todesangst verspürt. Angst vor der Endgültigkeit des Sterbens. Als Geistwanderin hatte sie Jahrtausende in der Gewissheit gelebt, einen anderen Körper übernehmen und unter neuer Identität weiterleben zu können. Doch seit sich die Hydree Manil’bud, ihr erstes Ich, in Venedig von ihr getrennt hatte, war sie nicht mehr sicher, ob sie über diese Fähigkeit noch verfügte. [2]
Als Matt sie dann vor dem Absturz gerettet hatte, war ihr klar geworden, dass er der einzige Mensch war, den sie noch hatte. Er war mehr als ihr Freund. Er war ihre Familie!
Genau , dachte Xij. Und mit der Familie steigt man nicht ins Bett!
Doch all ihre Überlegungen verloren an Bedeutsamkeit, als sie wenig später den Mündungsweg zur Höhle hinter sich gelassen und auf ein Plateau gelangt waren. »Kampfspuren«, hörte sie Matt rufen, der einen Steinwurf vor ihr über die Hochebene marschierte. »Und Blut!« Abrupt blieb er stehen und ließ sich auf ein Knie nieder. »Sehr viel Blut.«
Im Näherkommen sah auch Xij Hamlet die große Fläche rot gefärbten Schnee. »Entweder hat Grao hier jemanden geschlachtet, oder er ist selbst geschlachtet worden«, bemerkte sie trocken.
»Du solltest es nicht beschwören!« Matts Stimme klang wie brechendes Glas. »Lass uns hoffen, dass er noch am Leben ist.«
»Möglicherweise kommen wir auch mit seinem Leichnam durch das Portal«, entgegnet Xij mehr trotzig als überzeugt. Dann machte sie sich daran, mit Matt die umliegenden Felsen und Findlinge abzusuchen.
Doch vergeblich! Weder Verletzte noch Tote befanden sich auf dem Plateau. Schließlich entschieden die beiden, der tiefen Schleifspur zu folgen, die zwischen unzähligen Stiefelabdrücken von der Lache weg über den Klippenrand hinunter in die Ebene führte.
***
Je näher Xij und Matt dem Wald kamen, desto sicherer waren sie, dass die Wikinger Grao’sil’aana gefangen hatten. In der Ebene unterhalb des Plateaus waren sie auf Kufenspuren gestoßen, doch nirgendwo fanden sie die Abdrücke einer Wolfspfote oder einer Echsenklaue im Schnee. Auch keine Zeichen von Blut mehr. Neben Schlitten- und Stiefelabdrücken nur diese tiefe Schleifspur, an deren Grund stellenweise ein rautenförmiges Muster zu erkennen war. Wahrscheinlich schleppten die Wilden den schweren Körper des Daa’muren in Fangnetzen zu ihrem Lager oder Dorf.
Während Matt Drax neue Hoffnung schöpfte, dass Grao noch lebte, fühlte Xij sich immer verzagter. Nicht, weil sie dem Daa’muren den Tod wünschte, sondern weil ein bleiernes Gefühl ihr Glieder und Herz schwer machte. Als hätte sie Sandsäcke an den Füßen, schleppte sie sich hinter ihrem Gefährten her. Als sie den Waldsaum betraten, der die Ebene von den Bergen trennte, quälten sie schreckliche Vorahnungen. Keinen Schritt weiter wollte sie. Auf der Stelle umkehren und fliehen. Doch wohin?
Es gibt keine Vorahnungen , ermahnte sie sich. Nur Erinnerungen aus ihren unzähligen Leben. Sie musste schon einmal hier gewesen sein und schreckliche Dinge erlebt haben. Sie konzentrierte sich auf den Gedanken, dass das, was auch immer sie einst heimgesucht hatte, längst abgeschlossen war und sich nicht wiederholen würde. Das half. Zwar vertrieb es nicht gänzlich die vermeintlichen Vorahnungen oder das bleierne Gefühl, doch sie konnte Matt zumindest weiter in den Mischwald hinein folgen.
Es roch es nach Harz und Tannengrün. Knorriges Geäst ächzte im Wind und über den Baumwipfeln kreischte ein Raubvogel. Nach und nach verschluckten die dichter stehenden Bäume mehr und mehr die Helligkeit des Tages. Dennoch war im diffusen Licht die Fährte der Wikinger deutlich zu sehen. Aufgeworfener Matsch aus Schnee und verfaulten Laub wies den Gefährten die Richtung. Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto stiller wurde es um sie herum. Nur die eigenen Schritte im Unterholz waren noch zu hören.
Xij Hamlet war zumute, als würde ihre Umgebung sie in ein Leichentuch hüllen. Immer eiliger hatte sie es, das düstere Gehölz wieder zu verlassen. Auch Matt schien sich unwohl zu fühlen. Mit finsterer Miene blickte er immer wieder um sich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lichteten sich vor ihnen die Baumriesen. Das Licht nahm
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