328 - Flucht aus dem Sanktuarium
Pedró will im Fahrzeughangar am Hafen ein Feuerwerk veranstalten, um die Carabineros dort abzulenken. Währenddessen werden wir das Lager stürmen und die Gefangenen über den Fluss in die Blue Mountains bringen. Dort erwarten uns Bergführer, die uns alle in den sicheren Norden führen werden.«
Die ganze Zeit hatte Salma mit strahlenden Augen den Ausführungen des Weißhaarigen gelauscht. Doch bei seinen letzten Worten verschwand das Leuchten aus ihrem Blick und ihre Miene verfinsterte sich. »Wie zum Teufel wollt ihr die vielen Befreiten durch den Fluss bringen? Sollen sie schwimmen? Oder auf den blutrünstigen Crodactus reiten?«
»Wir werden die alten Flöße dazu benutzen.«
»Was? Die Flöße? Viel zu langsam für eine Flucht«, winkte die junge Frau entrüstet ab. »Sobald die Lagerwache Alarm schlägt, wird Juliano Dorgecà uns die Schnellboote auf den Hals hetzen. Flöße! Welch eine blödsinnige Idee.«
»Jah Mon, beruhige dich, Salma, beruhige dich! Wenn du noch lauter wirst, werden die Schnellboote gar nicht mehr nötig sein.« Grimmig deutete Pablo auf die Ganja rauchenden Wachen. Einige hoben schon die Köpfe und warfen dem Alten und Salma misstrauische Blicke zu. Der dürre Rastaff senkte die Stimme. »Die Schnellboote werden nicht einsatzbereit sein. Pedró will sich darum kümmern. Und der alte Fischer Juan wird mit seinen Manutys dafür sorgen, dass die Flöße schnell wie der Wind zu den Bergen gelangen.« Erwartungsvoll schaute er die Chaymacanerin an. »Na, beruhigt dich das?«
Doch Salma schien immer noch nicht überzeugt. Sie gab nur ein abfälliges Brummeln von sich. Dabei stierte sie unentwegt in ihren Coffeybecher, als tummelten sich Blutegel darin.
Pablo konnte sich keinen Reim auf das merkwürdige Verhalten der jungen Frau machen. Selbst ihm, der immer noch damit haderte, seine Heimat verlassen zu müssen, hatte der Befreiungsplan auf Anhieb gefallen. Was nur hatte Salma an den Flößen auszusetzen?
Er konnte ja nicht ahnen, dass es doch etwas gab, was die sonst furchtlose Chaymacanerin in Angst und Schrecken versetze: sich auf dem Hope River zu befinden, mit nichts weiter als zusammengebundenen Holzbohlen zwischen sich und dem tiefen Gewässer...
Salma konnte nicht schwimmen. Niemand wusste davon. Selbst ihr geliebter Pedró nicht. Und sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als dem alten Pablo dieses Geheimnis jetzt preiszugeben.
***
Kingston, im Palast des Gouverneurs
Bereits vor dem Zusammentreffen mit dem Stadtregenten begann Matt langsam aber sicher seine Geduld zu verlieren. Man hatte ihn und Xij eine gefühlte Ewigkeit warten lassen, bevor sie endlich in das Empfangszimmer des Gouverneurs geführt wurden: ein Saal mit Brokatvorhängen vor den Fenstern und einem runden Tisch, an dem auf gedrechselten Stühlen ein Dutzend Chaymacaner saßen. Während sie die Ankömmlinge mit teilnahmslosen Mienen betrachteten, erhob sich ein großer schlanker Mann und stellte sich als Gouverneur Juliano Dorgecà vor.
Er trug eine schmucklose dunkle Uniform und hatte ein kantiges, fahles Gesicht, in dem weder Falten, noch Bartstoppeln zu sehen waren. Sein halblanges Haar strotzte vor Pomade, der Seitenscheitel schien mit einem Lineal gezogen zu sein, und der Tonfall, mit dem er die Gefährten einlud, Platz zu nehmen, klang monoton. Das Einzige, was dem Regenten etwas Farbe verlieh, war die Augenklappe, die er auf der linken Gesichtshälfte trug.
Mit einer Handbewegung begann Dorgecà, seinen Stab vorzustellen. Nannte den grauhaarigen Alten zu seiner Rechten Professore, den dicken Kahlkopf daneben Schatzmeister Nadoz und einen weiteren Hafenmeister Largoza.
Matthew Drax blickte fassungslos in die Runde. Wollte der Gouverneur ihnen allen Ernstes sämtliche Mitglieder seines Stabes vorstellen, statt etwas gegen die bevorstehende Katastrophe zu unternehmen? Oder hatte der hirnlose Hauptmann ihn gar nicht darüber aufgeklärt? Matt sah zu dem narbengesichtigen Kiké Tengoca hinüber, der im Rücken des Regenten stand, doch der schien genauso fassungslos zu sein.
Ungeduldig hob der Mann aus der Vergangenheit die Arme. »Wir sollten die Vorstellung auf später verschieben«, unterbrach er den Regenten. »Im Augenblick ist nur wichtig, wie wir die Einwohner am schnellsten in die Berge schaffen können, bevor die Flutwelle kommt.«
Mucksmäuschenstill war es mit einem Mal. Die Mitglieder des Stabes stierten Matt an, als habe er ihnen einen unanständigen Antrag gemacht. Nur der einäugige
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