331 - Verschollen in der Zeit
alle zu Boden. Und wieder lösen sich die Schlangen von ihren Hälsen und bleiben betäubt im Gras liegen. Im Gegensatz zum ersten Mal wenden sich die Menschen aber nicht zur Flucht. Sie können es nicht mehr.
Im hellen Sonnenlicht sehe ich Dampf von ihnen und auch von den Schlangenkörpern aufsteigen, als würden ihre Leiber kochen.
Schmerz vernebelt kurz meine Sicht, als ich mich erhebe und zu den Kriegern und ihren Schlangen hinüber wanke. Im Näherkommen sehe ich, dass die Flügel der Reptilien vollständig verschwunden, von der Entladung buchstäblich weggesengt worden sind. Und finde meinen ersten Eindruck bestätigt: Diese Angriffswelle wird sich nie mehr erheben. Für diese hier gibt es kein Heil in der Flucht mehr.
Sie sind tot. Bei lebendigem Leib geröstet.
Ungläubig hebe ich die selbstgebaute Waffe und betrachte sie, als wollte ich sie fragen: Warst du das? Was habe ich denn da gebaut – und was habe ich mit dir angerichtet?
Es will nicht in meinen Kopf, etwas derart Tödliches geschaffen zu haben. Und doch erwacht jetzt eine Genugtuung in mir, die mir endgültig vor Augen führt, dass ich nicht mehr der bin, der ich vor der Ankunft in dieser Zeit und Welt war.
Sie hat mich nicht nur körperlich versehrt, sondern auch tief im Kern verändert. Das Gift der Schlangen scheint etwas von deren Tücke auf mich zu übertragen – scheint nach und nach jeden Skrupel in mir abzutöten, jedes Gefühl für Moral und Anstand oder auch nur Gnade.
Wo wird das enden?
Allein, dass ich mich das im Angesicht meiner Opfer frage, ohne die Tat wirklich zu bedauern, ist bezeichnender als jede Ursachenforschung, die ich hätte betreiben können. Es ist eine Tatsache, der ich mich stellen muss.
Und welche Ironie: Wahrscheinlich habe ich in dieser Verfassung sogar die besseren Chancen, mein Ziel zu erreichen und einen Weg zurück in den zeitlosen Raum und zu meinesgleichen zu finden.
***
Haben die Schlangen in der Kiste das Ende ihrer Artgenossen mental miterlebt? Als ich mich ins Innere meiner Turmfeste schleppe, empfängt mich Totenstille. Ich kann mich nicht sofort um die Reptilien kümmern, sondern muss zunächst meine Wunde versorgen. Ich entferne behutsam den Pfeil, koche Stoffstreifen ab und säubere damit die Wundränder, bringe die Blutung zum Stillstand und lege schließlich einen improvisierten Druckverband an. Steril ist das nicht, aber mehr kann ich nicht tun. Außer...
Als mir der Gedanke kommt, löse ich den Verband noch einmal ab und entnehme meinem Vorrat an Schlangengift eine Tagesdosis, die ich auf die Innenseite der Kompresse schütte und diese dann wieder auf die nässende Wunde bringe.
Für einen Moment jagt der Schmerz mir schwarze Blitze ins Gehirn. Doch das klingt rasch ab und schon wenig später tut es kaum noch weh. Das Fleisch wirkt jetzt pelzig dort, wo die Pfeilspitze einschlug.
Ich frage mich, ob ich nun völlig wahnsinnig geworden bin. Ich handele fast nur noch nach »Bauchgefühl« – ein Verhalten, das mein Volk schon vor Äonen abgelegt und sich den Gesetzen der Logik verschrieben hat. Kenne ich denn keine moralischen Grenzen mehr, wie vorhin, als ich die Männer umbrachte, die mich töten wollten?
Mit fällt ein, dass ich sie nicht dort draußen liegen lassen kann. Aber bevor ich mich um sie kümmere, muss ich an mich selbst denken. Spätestens morgen wird sich zeigen, was die Säuberungs- und Desinfektionsversuche wert waren.
Ich sinke sitzend kurz in mir zusammen und falle in einen Halbschlaf, aus dem ich erst schrecke, als der Raum erfüllt ist von einem Zischen und Rumpeln, wie ich es in dieser Lautstärke noch nicht erlebt habe. Die Schlangen in der Box sind völlig außer sich, gebärden sich so wild, dass sie den Behälter fast umwerfen.
Ich habe den Deckel nicht wie üblich geschlossen und verriegelt. Nur das Gitter aus geflochtenen Fasern deckt ihn ab. Würde er wirklich kippen, könnte sich eine Öffnung bilden, durch die die Reptilien entkämen.
Sie haben meine Schwäche, meine Beinahe-Besinnungslosigkeit gespürt und wollten sie sich zunutze machen. Gerade noch rechtzeitig komme ich zu mir.
Jetzt bin ich sicher, dass sie Zeugen des Sterbens draußen waren. Ihr Hass auf mich hängt fast greifbar in der Luft.
Kurz überlege ich, sie alle umzubringen. Das hat nichts mit Logik zu tun – denn ich brauche sie ja, brauche sie wie die Luft zum Atmen! –, vielmehr mit Scham.
Ein Teil von mir registriert erleichtert, dass ich noch nicht gänzlich abgestumpft und
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