34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Halskuhle, und sagte: »Abgetaucht bist du noch schöner.«
Sie gingen in das neue chinesische Restaurant, und Ella beschloss, dass es schon genug Geständnisse für heute gegeben hatte und dass sie jetzt vor allem Hunger hatte und Durst. Sie bestellte eine solche Menge handgemachter Dumplings, dass man denken konnte, sie wappnete sich für eine Bergtour. Dazu bestellte sie Tee, der seinen Geschmack aus einer Blüte zog, die ihre Blätter ausbreitete und nach dem dritten Schluck schwer und breit unten im Glas saß. Paul schaute sie lachend von der Seite an und streichelte unter dem Tisch ihre trägen Beine. Ella schloss die Augen. Als die Bambuskörbchen sich dann auf dem Tisch stapelten, verspeiste sie wort- und tonlos ein Dumpling von jeder Sorte. Sie schmeckte Ingwer, Lamm und Zimt. Das half. Der Ingwer klärte ihre Gedanken, das Lammfleisch stärkte, der Zimt beruhigte sie. Sie lehnte sich zurück, schaute Paul an und sagte: »Hallo.«
Paul lachte: »Da bist du ja wieder.« Dann hielt er inne und fuhr fort: »Aber nicht wieder ganz auftauchen, ja?«
Sie küsste ihn und flüsterte: »Sollen wir jetzt einen Bambus- oder einen Rosenschnaps trinken?«
»Klingt beides scheußlich, ist also egal«, sagte Paul.
»Dann beides«, sagte sie, bestellte die Schnäpse, atmete einmal tief durch die Nase und fuhr fort: »Wie heißt er denn, dein Sohn?«
Jetzt war es nicht mehr so schlimm, jetzt hätte sie ihn genauso fragen können, ob sein Sohn seine schönen grünen Augen geerbt hatte.
»Georg«, sagte er, schaute sie prüfend an und fuhr fort: »Aber mehr verrate ich dir heute nicht.«
Ella legte ihren Kopf auf seine Schultern und flüsterte: »Danke.«
Paul küsste ihre Haare, und Ellas Atmung glich sich seiner an.
Haut und Haar.
»Über meinen Sohn und all das sprechen wir nicht und über deine Schwester sprechen wir nicht, aber ein bisschen sprechen wir noch, bevor wir uns küssen, oder?«, fragte er über ihren Kopf hinweg.
Haut und Haar.
»Oder?«
Ella hob ihren Kopf wieder und sagte leise: »Vielleicht wäre das ganz schön, noch ein wenig zu sprechen, bevor wir uns küssen.«
»Unbedingt«, sagte er.
»Willst du eine kleine Geschichte über meine Kniekehlen hören?«, fragte sie.
Er schaute sie schmunzelnd an und schüttelte den Kopf: »Auf keinen Fall.«
»Auf keinen Fall«, wiederholte sie.
Er schob seine Hand unter ihren Blusenkragen und ließ sie auf ihrem Schlüsselbein ruhen.
»Wir wollten doch noch ein bisschen sprechen.«
»Ja, das wollten wir«, sagte er. »Erzähl mir was über deine Wohnung.«
»Über den Teppich im Eingang, meinen Tisch oder mein Bett?«
»So wird das nichts mit dem Sprechen.«
Nun gut, wenn es unbedingt sein muss, dachte sie. »Ich hab sie sowieso nicht mehr lang, ich werde sie nämlich tauschen. Ein Meeresforscher will mit mir Wohnungen tauschen.«
Er rückte etwas ab, schaute sie ungläubig an: »Ein Meeresforscher will mit dir seine Wohnung tauschen?«
»Er ist ein bisschen seltsam, aber keine Sorge, ich habe es schwarz auf weiß: keinerlei Avancen. Das hat er auf seine Annonce geschrieben, und die hat er an Ampeln verteilt. Sechs Zimmer in Charlottenburg.«
»Können wir darüber erst reden, nachdem ich wenigstens ein Mal in deiner Wohnung gewesen bin?«, fragte Paul leise.
Sie nickte und stellte sich vor, wie Paul und sie sich vor dem alten Aquarium in Horowitz’ Wohnung liebten. Dann lehnte sie sich zurück und fing an, eine Theorie zu unterbreiten, nach der sich östliche Pflanzen im Wasser wohlfühlten, während westliche Angst davor hatten. Doch nach ein paar Sätzen brach sie ab.
»Was ich eigentlich meine«, sagte sie lachend, »ist, dass mein Leben eher der Limone ähnelt als der Teeblume.«
Paul schaute sie fragend an, und schon wusste sie selbst nicht mehr, was sie damit gemeint hatte.
Paul schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand.
In diesem Moment kam der Chef des Restaurants und goss dampfendes Wasser nach. »Man kann sie einfach neu aufgießen«, sagte er, »und das Aroma wird immer besser.«
»Siehst du«, sagte sie und wusste schon wieder nicht genau, warum sie das gesagt hatte. Sie hatten nun aber wirklich genug gesprochen. Sie lehnte sich zu Paul hinüber, fuhr seine Oberschenkel entlang nach oben und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie jetzt nicht mehr sprechen und auch nicht mehr trinken und nicht mehr sitzen und nicht mehr nur noch sie selbst sein wollte.
Paul winkte den Kellner heran und bestellte statt der Rechnung zwei Nachspeisen.
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