34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
niemals, was ihrer Schwester gerade passierte: dieses Fassadengesicht.
Als sie aus dem Bad zurückkehrte, stand Paul schon im Restaurant und sah sich suchend um. Er entdeckte sie, kam auf sie zu, küsste sie, schaute einmal an ihr herab und dann tief in ihre Augen. Ella lotste ihn an Jasmins Tisch. Jasmin tat so, als hätte sie die Begrüßung nicht beobachtet.
Paul setzte sich zu ihnen. Jasmin versuchte, mit Paul zu scherzen und eine gute Figur zu machen, dann stand sie auf, umarmte Ella und verabschiedete sich von Paul. Ella zog sie noch einmal an sich heran, Jasmin schaute sie mit einem vielsagenden Blick an. Dann war sie verschwunden. Die Frau vom Nebentisch lächelte.
»Ältere Schwester?«, fragte sie.
Ella nickte.
Als Paul und Ella aus dem Restaurant auf die Straße traten, wehte ihnen kühle Abendluft entgegen, und Ella fror. Sie sollte jetzt einfach allein nach Hause gehen. Der Abend war abgebrochen wie ein morscher Ast. Sie stieg in Pauls Wagen.
»Was ist mit dir?«, fragte er, als sie losfuhren.
Ella strich sich durch die Haare: »Wieso können wir nur mit einem so kleinen Teil des Anderen leben? Wieso blenden wir immer so viele Seiten des Anderen aus und machen ihn dann auch noch dafür verantwortlich, dass er undurchsichtig für uns bleibt?«
»Wovon redest du?«, fragte er.
»Mein Schwager hat ein Geheimnis.«
»Ein Geheimnis?«
»Ja.«
»Und deine Schwester?«
»Meine Schwester hasst Geheimnisse.«
»Jasmin… der Name passt überhaupt nicht zu ihr.«
»Sie kann ihn auch nicht leiden. Und wie soll aus dem Leben was werden, wenn der Titel schon nicht stimmig ist?«
Er lachte kurz.
»Meine Mutter hat mal im Streit gesagt, sie habe sie nach einer Antibabypille benannt, aber das ist natürlich nicht wahr.«
»Nein«, sagte er.
»Die Pille schreibt man auch anders, mit ›Y‹, glaube ich, aber es saß trotzdem. So viele Sätze, die meine Mutter gesagt hat, saßen, obwohl sie nur so dahingesagt waren. Jasmin – das unerwünschte Kind.«
»Sie wirkt müde«, sagte er.
»Sie hat vier Kinder«, sagte sie, »sie hat vier Kinder, Kaninchen, Hamster und eine Praxis.«
Paul schaute auf die Straße und fuhr weiter.
»Krankengymnastik«, schob Ella nach.
»Krankengymnastik«, wiederholte Paul.
Ella schaute aus dem Fenster. Auf der Straße schloss ein mittelaltes Paar seine blauen Fahrräder auf.
Dann sagte Paul leise: »Ich hab auch ein Kind, einen Sohn, und ich bin auch nicht…«
»Was?«, fragte Ella und räusperte sich. Ihr Blick schnellte einmal kurz zu ihm herüber.
»Ich wollte dir das schon gestern sagen, aber ich hab’s mich nicht getraut. Deswegen bin ich doch gefahren.«
»Können wir gleich darüber reden?«, fragte Ella. »Ich meine, wenn ich sitze.«
»Du sitzt doch«, sagte Paul.
»Aber wir fahren«, antwortete sie. »Das geht alles gerade etwas schnell.«
Sie schwiegen.
Ein Kind? Er war fünfunddreißig und allein. Da hat man doch kein Kind. Und was wollte er ihr noch sagen? Da war doch noch etwas gewesen, oder nicht? War er vielleicht gar nicht allein, gab es zu dem Kind auch noch eine Frau? War es das, was er ihr sagen wollte? Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, nicht jetzt. Mit ihm war doch alles möglich. Er war allein.
Draußen stand eine Gruppe Touristen, die in unterschiedliche Richtungen zeigten.
So hatte sie sich den Abend nach dem ersten Kuss nicht vorgestellt. Warum hatte sie ihm nicht abgesagt? Der Tag hatte schon zweimal angehoben, ein drittes Mal würde er es nicht schaffen. Wie sollte auch aus einem überladenen Tag ein leichtfüßiger Abend werden?
Jetzt waren sie am Rosenthaler Platz. Farbspuren zogen sich über den Asphalt, als wären ganze Eimer von Farbe auf die Kreuzung geflossen. Diese Spuren hatte es vor ein paar Tagen noch nicht gegeben. Horizontales Graffiti, von den Reifen der Autos gemalt. Schöne, große Bögen und breite Striche in Blau, Pink, Lila und Gelb. Natalia musste kurz vor ihrem Unfall mit dem Fahrrad genau darüber gefahren sein.
Paul parkte, ging um das Fahrzeug herum und öffnete Ellas Tür. Sie blieb sitzen. Nicht nur der Tag konnte nicht mehr anheben, auch sie wollte nicht mehr hochkommen. Ihre Fußsohlen drückten auf das Muster der Gummimatte. Sie meinte, die Noppen spüren zu können. Doch Paul beugte sich über sie, küsste ihren Hals, löste ihren Anschnallgurt, griff ihr unter die Arme und hob sie wie ein Kind aus dem Auto. Dann stellte er sie auf beide Füße, küsste sie noch einmal, diesmal in die
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